Grußwort an die Schulabsolventen 2015: Seid ungehorsam!
Heute ist der letzte Schultag des Schuljahres 2014/15 in Nordrhein-Westfalen. In den vergangenen Tagen haben die Abiturienten und die Absolventen von Haupt-, Real- und Gesamtschulen ihre Abschlusszeugnisse erhalten — Anlass für den Herausgeber von „Schule intakt“, ein Grußwort auszurichten.
Liebe Schulabsolventen 2015!
Als ich vor knapp 20 Jahren mein Abiturzeugnis bekam, erhielt ich zusätzlich eine Ausgabe des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Meine Politiklehrerin sagte einmal: „Es kann nicht schaden, seine Grundrechte zu kennen.“ Seine Grundrechte zu kennen, ist das eine — sie wahrzunehmen, das andere. Ich erlaube mir eine kleine Lektion in Staatsbürgerkunde.
In Artikel 2 des Grundgesetzes heißt es:
Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt […].
Jeder hat das Recht, seine Persönlichkeit frei zu entfalten. Das klingt gut. Doch was ist das, die eigene Persönlichkeit? Kennt man mit 18 Jahren seine eigene Persönlichkeit? Und wie geht das, sie frei zu entfalten? Nebenbei bemerkt: Es ist fraglich, ob ein durch und durch standardisiertes Schulwesen (u. a. mit einem Zentralabitur) hilfreich für junge Leute ist, ihre Persönlichkeit frei zu entfalten… Hin und wieder muss man sich wohl gegen äußere (manchmal auch innere) Zwänge wehren, um sich zu entfalten. Nicht zu Unrecht sind Grundrechte „Abwehrrechte gegen den Staat“.
Gehen wir schnell zu einem weiteren Grundrecht. Artikel 5 lautet (Absatz 1):
Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. […]
Als ehemaliger Schülerzeitungsredakteur und Blogger ist die Meinungsfreiheit mein Lieblingsgrundrecht. Schade, dass immer weniger Schüler sie dadurch einüben, dass sie eine Schülerzeitung herausgeben. Dieses Grundrecht wird im Übrigen beleidigt, wenn man es darauf beschränkt, bei Facebook & Co „Gefällt mir“-Buttons anzuklicken. Mal einen Leserbrief an eine Zeitung zu schreiben, das wäre sehr viel mehr wert.
Es gibt noch einige weitere Grundrechte, aber ich muss auf Artikel 20 zu sprechen kommen. Darin heißt es:
[D]ie vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
Hört sich selbstverständlich an — wir leben schließlich in einem Rechtsstaat und nicht in einer Bananenrepublik. Aber wenn die vollziehende Gewalt an Recht und Gesetz gebunden ist, wieso kommt es dann immer wieder zu rechtswidrigen Prüfungen im NRW-Zentralabitur („Fixvektorpanne“)? Lehrpläne und Vorgaben für die schriftlichen Abiturprüfungen sind geltendes Recht. Ist die Landesregierung an dieses (von ihr selbst erlassene) Recht nicht gebunden? Merkwürdig… Ich habe mich gefragt, warum kaum jemand diesen eklatanten Verstoß wahrhaben will geschweige denn gegen ihn protestiert. Noch nicht einmal die Landesschülervertretung beschwert sich. (Sich mit Bitten und Beschwerden an die zuständigen Stellen und die sogenannte Volksvertretung zu wenden, ist übrigens auch ein Grundrecht.) Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es in dieser Angelegenheit an einer gehörigen Portion Ungehorsam fehlt. Über den Ungehorsam hat Erich Fromm ein Buch geschrieben: „Über den Ungehorsam und andere Essays“ (dtv, Stuttgart). Darin lese ich:
Ungehorsam in dem Sinn, wie wir ihn hier verstehen, ist die Bejahung von Vernunft und eigenem Willen. […]
Um ungehorsam zu sein, muß man den Mut haben, allein zu sein, zu irren und zu sündigen. Die Fähigkeit zum Mut hängt aber vom Entwicklungsstadium des Betreffenden ab. Nur wenn ein Mensch sich vom Schoß der Mutter und den Geboten des Vaters befreit hat, nur wenn er sich als Individuum ganz entwickelt und dabei die Fähigkeit erworben hat, selbständig zu denken und zu fühlen, nur dann kann er den Mut aufbringen, zu einer Macht nein zu sagen und ungehorsam zu sein.
Ein Mensch kann durch den Akt des Ungehorsams, dadurch daß er einer Macht gegenüber nein sagen lernt, frei werden; aber die Fähigkeit zum Ungehorsam ist nicht nur die Voraussetzung für Freiheit — Freiheit ist auch die Voraussetzung für Ungehorsam. Wenn ich vor der Freiheit Angst habe, kann ich nicht wagen, nein zu sagen, kann ich nicht den Mut aufbringen, ungehorsam zu sein. Tatsächlich sind Freiheit und Fähigkeit zum Ungehorsam nicht voneinander zu trennen.
Damit sind wir wieder bei den Grundrechten. Jeder hat das Recht, seine eigene Persönlichkeit frei zu entfalten. Wie wir bei Erich Fromm gelesen haben, ist es gar nicht so leicht, diese Freiheit wahrzunehmen. Dafür bedarf es offenbar einer gewissen Portion Ungehorsam.
Liebe Abiturienten, liebe Schulabsolventen, ich wünsche Euch, dass Ihr Eure Persönlichkeit frei entfalten könnt und dass Ihr immer Menschen um Euch herum haben werdet, die Euch dabei helfen. Seid ungehorsam!
Alexander Roentgen
Aufklärer Zentralabitur
PS: Numerus clausus hin oder her — das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit hängt grundsätzlich nicht davon ab, welchen Notendurchschnitt man auf irgendeinem Papier hat. Das engstirnige, zwanghafte Streben nach guten Noten steht einer freien Entfaltung der Persönlichkeit vielmehr im Weg.