NRW-Zentralabitur (Mathematik Grundkurs): Warum die Fixvektorpanne eine Panne ist
Die aktuelle mögliche Fixvektorpanne (wir berichteten) möchten wir zum Anlass nehmen, noch einmal zu erklären, warum es sich um eine Panne handelt, wenn in Abiturprüfungen im Fach Mathematik für den Grundkurs im Rahmen der Matrizenrechnung nach „stationären Verteilungen“ gefragt wird — wie es 2009, 2010, 2011, 2012, 2014 und allem Anschein nach auch 2015 geschehen ist.
Im Wesentlichen wiederholen wir unsere Argumentation aus dem Beitrag „Unstimmigkeit im NRW-Zentralabitur 2014 (Mathematik Grundkurs)“.
1.) Der Prüfungsgegenstand „stationäre Verteilung“ im Grundkurs (GK) verstößt gegen die Vorgaben, da er laut Lehrplan Mathematik und Abiturvorgaben nur für den Leistungskurs (LK) als (prüfungsrelevanter) Unterrichtsinhalt vorgesehen ist und da er unangemessen schwierig ist. (Genaue Quellenangaben unten.)
Wenn eine Abiturprüfung für den Grundkurs Mathematik stationäre Verteilungen zum Gegenstand hat, können die dazugehörigen Teilaufgaben allenfalls dann zulässig sein, wenn sie zum Anforderungsbereich III gehören. Auch wenn sie lösbar sind, dürfen sie nicht unangemessen schwer sein und nur einen kleinen Teil der Prüfung ausmachen. (Der Lehrplan sieht drei Anforderungsbereiche vor, die — salopp formuliert — drei Schwierigkeitsgraden entsprechen: von niedrig (I) bis hoch (III); er legt auch ungefähr die Gewichtung der Anforderungsbereiche fest.)
Eine typische Fixvektoraufgabenstellung im Rahmen von Übergangsmatrizen lautet: „Ermitteln Sie die stationäre Verteilung, d.h. die Verteilung, die sich [innerhalb eines Jahres z. B.] nicht ändert.“ („Stationäre Verteilung“ ist ein Synonym für „Fixvektor“ (Eigenvektor zum Eigenwert 1) im sogenannten Sachzusammenhang.)
Ein GK-Schüler müsste selbstständig auf den Ansatz „M x = x“ kommen, er müsste ein Gleichungssystem lösen, das ihm in dieser Form nicht vertraut sein wird und eventuell unendlich viele Lösungen hat. Zudem müsste er unter Umständen eine Nebenbedingung berücksichtigen. All das lernt ein LK-Schüler im Unterricht kennen und übt es ein. Ein GK-Schüler soll das alles aus dem Stehgreif können? Face reality!
Wenn das das Verständnis vom Anforderungsbereich III ist, könnte man (fast) jeden Unterrichtsinhalt, der laut Lehrplan und/oder Vorgaben nur für eine LK-Prüfung vorgesehen ist, in einer GK-Prüfung abfragen, z. B. Abstandsprobleme („Berechnen Sie den Abstand der beiden parallelen Ebenen!“ oder „Berechnen Sie den Abstand der beiden windschiefen Geraden!“) oder die Berechnung bestimmter Integrale mit partieller Integration oder Substitution. Dieser Logik folgend müsste man den Unterrichtsinhalt „Wirkungen/Integral der Änderungsrate“ gar nicht behandeln, denn den könnte sich ein Schüler in einer Prüfung selber herleiten. (Wer weiß, ob es dank der „Kompetenzorientierung“ nicht dazu kommen wird?)
Der Willkür wäre Tür und Tor geöffnet, und die Vorgaben könnte man komplett in der Pfeife rauchen.
2.) Die Wiederholung derselben Aufgabenstellung in fast jedem Jahr steht im Widerspruch zum Sinn des Anforderungsbereichs III.
Selbst wenn die Aufgabenstellungen mit stationären Verteilungen vom Schwierigkeitsgrad her angemessen wären, also zum Anforderungsbereich III gehören würden, ergäbe sich der nächste Widerspruch: Das Ministerium stellt die Abituraufgaben samt Musterlösung der jeweils letzten drei Jahre den Schülern und Lehrern zum Lernen und Lehren zur Verfügung. Die Aufgaben samt Lösungen werden im Stark-Verlag veröffentlicht. Das Ministerium muss also damit rechnen, dass ein erheblicher Teil der GK-Schüler über Fixvektoren/stationäre Verteilungen Bescheid weiß, obwohl dieser Unterrichtsinhalt laut Lehrplan und Vorgaben nicht im Grundkurs vorgesehen ist.
Für diesen Teil der Schüler verfehlen dann die Fixvektoraufgaben ihren Zweck, den Anforderungsbereich III zu überprüfen. Dieser erwartet ja gerade vom Prüfling eine Leistung, die nicht vorher im Unterricht durch ähnliche Aufgaben geübt worden ist. Megamäßig clever scheint die zuständige Aufgabenkommission nicht zu sein, wenn sie immer wieder dieselben Anforderungsbereich-III-Aufgaben stellt (und nur die Tierarten ändert – wann kommen endlich Meerschweinchen dran?).
3.) Die regelmäßige Wiederholung einer nicht vorgabenkonformen Aufgabenstellung führt dazu, dass Schüler im Zentralabitur ungleich behandelt werden, und dazu, dass die Vorgaben und der Lehrplan de facto außer Kraft gesetzt werden (zumindest teilweise). Kurz: Wer sich an die Vorgaben hält, hat Pech gehabt.
Die Vorgaben haben den eigenen Worten nach den Zweck, dass „alle Schülerinnen und Schüler, die […] das Abitur ablegen, gleichermaßen über die notwendigen inhaltlichen Voraussetzungen für eine angemessene Bearbeitung der zentral gestellten Aufgaben verfügen“.
Diejenigen Schüler, die sich im Glauben an die rechtsverbindliche Gültigkeit der Vorgaben und des Lehrplans nicht auf stationäre Verteilungen vorbereiten oder deren Lehrer dem Lehrplan entsprechend Fixvektoren nicht im Unterricht behandeln, sind gegenüber den übrigen Schülern im Nachteil. Es ist eine Situation entstanden, in der Lehrer den Lehrplan und die Vorgaben missachten müssen (wenn sie sie überhaupt im Detail kennen), um ihre GK-Schüler aller Voraussicht nach optimal im Hinblick auf die Matrizenrechnung vorzubereiten. Das ist absurd und inakzeptabel.
Im Übrigen kommt es nur deshalb nicht zu massiven Beschwerden von Schülerseite, weil vermutlich die allermeisten Lehrer ihre Schüler auf nicht vorgabenkonforme Aufgaben vorbereiten.
Diese Ausführungen begründen unsere Position, dass es sich bei dem Problem „Stationäre Verteilungen in GK-Prüfungen“ um eine Panne handelt – und zwar nicht um eine relativ kleine Panne, die darin besteht, dass auf den letzten Drücker Aufgabenstellungen korrigiert werden („Aufmerksame Lehrer haben wenige Stunden vor der Mathe-Abiturklausur am Dienstag Fehler in drei Aufgaben gefunden“, Aachener Nachrichten, 22.04.2015), sondern um eine Panne, die darin besteht, dass über Jahre hinweg gegen die Vorgaben verstoßen worden ist; dieser wiederholte Verstoß hat wiederum zu einer Rechtsunsicherheit geführt, was die Verbindlichkeit des Lehrplans und der Vorgaben angeht: Wer sich an die Vorgaben hält, hat Pech gehabt. (Oder wie es die Vertreterin eines gewissen Lehrerverbands allen Ernstes ausdrückte: „Wer sich an die Vorgaben hält, hat halt aus Erfahrung nicht gelernt.“)
All das ist bisher von vielen Seiten (Ministerium für Schule und Weiterbildung, GEW NRW, Philologenverband NW, Landesschülervertretung NRW, Oppositionsfraktionen im Landtag NRW) ignoriert und noch nicht einmal ansatzweise als Problem erkannt worden, als Problem, das der öffentlichen Klärung bedarf.
Es sei daran erinnert, dass Beamte die Pflicht zur Remonstration haben: „Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit dienstlicher Anordnungen hat der Beamte unverzüglich bei seinem unmittelbaren Vorgesetzten geltend zu machen“ (Beamtenstatusgesetz, § 36).
Wenn man einem Eintrag auf abiunity.de (Quelle unten) Glauben schenkt, dann rechtfertigt die Landesschülervertretung die fragwürdigen Aufgabenstellungen sogar – als wäre sie die Anwältin des Schulministeriums.
Das ist die schwerwiegende Panne hinter der Fixvektorpanne: Das Zentralabitur unterliegt keiner kompetenten demokratischen Kontrolle. In einer Bananenrepublik wird es nicht anders zugehen.
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Nachtrag (04.09.2015): Auf den Internetseiten des Ministeriums heißt es übrigens unmissverständlich:
Um […] gleiche Voraussetzungen für die Vorbereitung aller Schülerinnen und Schüler auf die zentralen Prüfungen zu schaffen, ist es notwendig, für jeden Abiturjahrgang verbindliche Unterrichtsvorgaben für die Qualifikationsphase festzulegen, denn auf diese beziehen sich die Prüfungsaufgaben.
(https://www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/abitur/abitur-gymnasiale-oberstufe/fragen-und-antworten/)
Angesichts der Fixvektorpanne sollte es besser heißen:
Um ungleiche Voraussetzungen für die Vorbereitung aller Schülerinnen und Schüler auf die zentralen Prüfungen zu schaffen, ist es notwendig, für jeden Abiturjahrgang unverbindliche Unterrichtsvorgaben für die Qualifikationsphase festzulegen, denn auf diese beziehen sich nicht alle Prüfungsaufgaben.
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Quellen:
- „Vorgaben zu den unterrichtlichen Voraussetzungen für die schriftlichen Prüfungen im Abitur in der gymnasialen Oberstufe im Jahr 2015. Vorgaben für das Fach Mathematik“, online https://www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/abitur-gost/getfile.php?file=3368
- Ministerium für Schule und Weiterbildung … (Hg.). Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen. Mathematik. Ritterbach Verlag. Frechen. 1999. S. 23ff. Online: http://www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/lehrplaene/upload/lehrplaene_download/gymnasium_os/4720.pdf
Zu Fixvektoren siehe S. 23 ff. - Abiunity.de: Eintrag von Hosti vom 27.04.2015 im Thread “Panne im Mathe-GK? Fixvektor steht nicht in den Richtlinien!”, http://www.abiunity.de/thread.php?threadid=39419&sid
Zu den Anforderungsbereichen siehe S. 70ff.