Grober Fehler im Schulbuch für Mathematik von Bigalke/Köhler
Oder: Wie beweist man, dass ist?
Im von Anton Bigalke und Norbert Köhler herausgegebenen Schulbuch “Mathematik. Gymnasiale Oberstufe. Nordrhein-Westfalen. Einführungsphase” (Cornelsen-Verlag, 1. Auflage, 2014 — nicht zu verwechseln mit der Ausgabe von 2010) geht es auf den Seiten 53 und 54 um “Potenzen mit rationalen Exponenten”. Diese werden auf mathematisch abenteuerliche Art und Weise eingeführt und “erklärt”. Franz Lemmermeyer hat dazu bereits einige Zeilen geschrieben (“Bigalke und die Katastrophe von Deli”). Hinsichtlich einer Passage in dem Bigalke/Köhler-Werk ist Lemmermeyers Analyse etwas knapp ausgefallen (“Eine Konsequenz wovon? Scheiß drauf!”). Wir möchten diese Stelle hier ein wenig ausführlicher beleuchten.
Auf Seite 54 des Mathematikbuchs (obere Hälfte) ist zu lesen:
Auf der vorherigen Seite trat insofern als Lösung auf, als dass dort zu lesen war:
Dies führt auf bzw. .
Es bleibt völlig unklar, ob durch definiert werden soll. An keiner Stelle (vor Seite 54) wird erklärt, was allgemein unter oder für welche gemäß einer Definition zu verstehen ist. Auf den Seiten 50 und 51 werden lediglich Potenzen mit ganzzahligem Exponenten und die dazugehörigen Potenzgesetze behandelt. Trotzdem wird auf Seite 54 die Aufgabe gestellt:
Bestimmen Sie den Wert der Potenz !
Wie soll man den Wert von etwas bestimmen, das überhaupt nicht definiert ist, das mathematisch gesehen gar nicht existiert? Ohne Definition ist nur eine Gestalt, eine äußere Hülle ohne Inhalt, ein (noch-nicht-)Zeichenkörper ohne Bedeutung. (Zu einem Zeichen gehören immer signifiant und signifié.) Über so ein nicht definiertes Dingsda lässt sich keine Aussage treffen (außer dass es nicht definiert ist und wie es aussieht). Nichtsdestotrotz behaupten die Autoren:
muss zwischen und liegen.
Nur weil 1/2 zwischen 0 und 1 liegt? Ist kleiner als , weil 0 kleiner als 1 ist? Was wäre, wenn nicht als 1, sondern als 10 definiert wäre? Läge dann das nicht definierte Dingsda immer noch zwischen und ? — Diese Logik hat ungefähr das Niveau von Folgendem: Peters Freundin heißt Julia. Weil Julia ein schöner Name ist, ist Peters Freundin auch schön. Peters ehemalige Freundin heißt Shirin. Shirin bedeutet im Persischen “süß”, also ist Peters Ex süß.
Es kommt noch doller. Auf das nicht definierte Dingsda wird eines der Potenzgesetze angewandt, deren Gültigkeit bisher nur für Potenzen mit ganzzahligem Exponenten mehr schlecht als recht gezeigt oder erklärt worden ist (S. 50f). Der “Analogieschluss” (Lösung 2) krankt ebenfalls daran, dass nicht definiert ist. Abgesehen davon: Was hat ein “Analogieschluss” überhaupt in der Mathematik zu suchen? (Im gesamten Mathematikstudium ist mir kein Analogieschluss begegnet.) Laut Schülerduden “Philosophie” ist der Analogieschluss (oder Analogismus) ein Verfahren, wonach aus der Analogie zweier Systeme hinsichtlich gewisser Merkmale auf die Übereinstimmung in anderen Merkmalen geschlossen wird. “Analogieschlüsse können leicht zu Fehlerquellen werden.” Laut Wikipedia ist der Analogismus “streng genommen kein Beweis – er besteht im Schluss auf die ungewissen Teile eines nicht vollständig bekannten Systems aus der Kenntnis eines ähnlichen, aber vollständig bekannten.” Gilt etwa oder , weil — Achtung: Ähnlichkeit! — für positive und gilt? Folgt per Analogieschluss, dass eine (natürliche) Zahl genau dann durch 27 teilbar ist, wenn ihre Quersumme durch 27 teilbar ist, weil die entsprechende Regel für die Teilbarkeit durch 3 und 9 gilt?
So hanebüchen vorzugehen, dieser grobe Unfug, widerspricht jeder Logik und jeder Mathematik. Über nicht oder nur schwammig definierten Kram zu reden, das war bislang den Laberfächern vorbehalten. Anstatt als (für und natürliche und ) zu definieren und darauf hinzuweisen, dass diese Definition praktisch ist, weil sich die bisher gültigen Potenzgesetze erweitern lassen, kommen die Autoren zu folgender “Konsequenz” (Seite 54 unten):
Wir kommen zu folgenden Konsequenzen:
- Manchmal hat man nicht genügend Kopf zum Schütteln.
- Nicht nur aus manchem Lehrwerk über Literatur sollte manche Seite herausgerissen werden — Capt’n John Keating (“Der Club der toten Dichter”):
Jetzt möchte ich, dass Sie die Seite rausreißen. Na los! Die ganze Seite sofort rausreißen! Und, Gentlemen, ich sag Ihnen was: Reißen Sie nicht nur die eine Seite raus, sondern die gesamte Einleitung. Sie soll weg. Weg mit J. Evans Pritchard, Doktor der Philosophie! Sauber rausreißen. Ich will nichts mehr davon sehen. Ganze Armeen von Akademikern haben danach Lyrik bewertet. Aber das wird es von nun an nicht mehr geben. Jetzt werden Sie wieder lernen, selbstständig zu denken.
- Der amtlich verordnete Niedergang des Mathematikunterrichts spiegelt sich auf üble Weise in (mindestens) einem Schulbuch wieder. (Aus dem Vorwort des Bigalke-Köhler-Buches: “In diesem Buch wird der Kernlehrplan für die Einführungsphase der gymnasialen Oberstufe […] des Landes Nordrhein-Westfalen konsequent umgesetzt.” — Das ist in der Tat gelungen.)
Wie man Potenzen mit rationalem Exponenten sauber definiert, macht Harro Heuser (“Lehrbuch der Analysis. Teil 1”, Teubner-Verlag) vor:
Ist das so schwer?
In dem vor etwa 25 Jahren benutzten Schulbuch “Mathematik. 9. Schuljahr” (Wilhelm Kuypers, Josef Lauter (Hrsg.), Cornselsen-Schwann, 1988) haben die Autoren sich viel Mühe gemacht, eine sinnvolle Definition von Potenzen mit rationalem Exponenten zu motivieren und umzusetzen (Ausschnitte aus den Seiten 210 und 215):
Da heißt es (in schöner alter Rechtschreibung):
Hier wird deutlich, daß man beim Definieren Vorsicht walten lassen muß, daß man also nicht nach Belieben definieren darf, weil sich sonst Widersprüche ergeben können.
Dieses Problem haben die Autoren von heute nicht, da sie erst gar nicht auf die Idee kommen, irgendetwas zu definieren. O tempora, o mores!