Als kein Hirn vom Himmel fiel
Die Süddeutsche Zeitung berichtet irreführend über das Abitur in Mathematik.
Die Süddeutsche Zeitung vom 23.7.2019 widmete ihre Seite 2 (“Thema des Tages”) dem Zentralabitur. Einer der beiden Artikel trug die Überschrift “Als die Funktion noch vom Himmel fiel” mit der Unterzeile “Immer wieder wird der Qualitätsverlust des Abiturs beklagt, nicht nur in Mathematik. Doch stimmt das wirklich?” (online unter dem Titel “Schwerer? Leichter? Vor allem nützlicher”). In dem Beitrag heißt es:
“Vielfältiger und näher an der Sprachverwendung im Leben” erlebt die ausgebildete Lehrerin das jetzige Fremdsprachen-Abitur. Mit einem Wort: nützlicher. Diesen Fortschritt sieht ihr Kollege Richard Lewandowsky [vom Stark-Verlag, A.R.] auch. Der Mathematiker und promovierte Physiker sagt: “Früher schrieb ein gutes Mathe-Abi, wer gut mit Rechenverfahren klarkam. Die konnte man lernen, wie ein Kochrezept.” Ein Anwendungsbezug habe meist gefehlt, “die Funktionen fielen sozusagen vom Himmel”.
Gegeben ist die in IR \ {2} definierte Funktion f: x → 1-x² / 2 (2-x) so begann 1985 eine Aufgabe, gefolgt von Aufträgen zur Kurvendiskussion.
Heute ist die Aufgabenkultur anders. Neben innermathematischen Inhalten spielen Zusammenhänge, mathematisches Verständnis, verschiedene Lösungswege eine Rolle. “Man besinnt sich auf Mathematik als Instrumentarium zum Problemlösen”, sagt Lewandowsky. Die Schüler müssten einen Sachkontext mathematisieren, die Zu- und Abflussrate eines Wassertanks etwa, und auf die Funktion zur Lösung der Aufgabe selbst kommen. “Für den geübten Rechner, der wenig Sinn für andere Seiten der Mathematik hat, ist das Abitur schwerer geworden”, sagt Lewandowsky. “Für den, der besser argumentieren als rechnen kann, ist es heute leichter.”
Lieb sind ihm die Kategorien schwerer/leichter aber nicht, sie seien viel zu undifferenziert. “Wer das heutige Abitur eins zu eins mit dem früheren vergleicht, ignoriert den inzwischen völlig anderen didaktischen Geist. Er vergleicht Äpfel mit Birnen.”
Dazu können wir nur sagen: Hahaha! — Oder etwas ausführlicher:
1.) Heute gibt es keine Rechenverfahren mehr, die man lernen kann, “wie ein Kochrezept”? Es gibt keine Verfahren mehr, wie man Extrem- und Wendepunkte einer Funktion bestimmt? Wie man ein lineares Gleichungssystem löst? Wie man die Lage von Geraden zueinander untersucht?
2.) Heute fallen Funktionen nicht mehr vom Himmel? In den Analysis-Aufgaben im NRW-Zentralabitur wird in der Regel eine Funktion vorgegeben, also vom Himmel fallen gelassen. In Bayern ist das nicht anders, wie eine kurze Recherche ergab. Auf den Seiten des Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung, einer untergeordneten Behörde des bayrischen Kultusministeriums, finden sich die Abiturprüfungen von 2011 bis 2019. Die Analysis-Aufgaben der letzten drei Jahre fingen wie folgt an:
- Gegeben ist die Funktion : mit maximalem Definitionsbereich . (Abiturprüfung 2019 (B). Analysis. Aufgabengruppe 1)
- Gegeben ist die Funktion : mit Definitionsmenge . (Abiturprüfung 2019 (B). Analysis. Aufgabengruppe 2)
- Gegeben ist die in definierte Funktion : . (Abiturprüfung 2018 (B). Analysis. Aufgabengruppe 1)
- Abiturprüfung 2018 (B). Analysis. Aufgabengruppe 2: Hier müssen die Schüler im Aufgabenteil a) eine stinknormale Steckbriefaufgabe lösen. Eine Kontrolllösung ist angegeben. Steckbriefaufgaben sind aber keine Erfindung der modernen Didaktik, sondern gibt es seit mindestens 30 Jahren.
- Gegeben ist die in definierte Funktion : . (Abiturprüfung 2017 (B). Analysis. Aufgabengruppe 1)
- Gegeben ist die Funktion mit und . (Abiturprüfung 2017 (B). Analysis. Aufgabengruppe 2)
Hat man in der Redaktion der SZ keinen Zugriff auf die Internetseiten der bayrischen Landesregierung?
3.) “Heute ist die Aufgabenkultur anders.” Das ist korrekt (obwohl die Funktionen — wie gezeigt — immer noch vom Himmel fallen). Präziser: Die Aufgabenkultur ist bescheuert — Kompetenzorientierung und Pseudomodellierung sei Dank.
4.) Früher spielten Zusammenhänge, mathematisches Verständnis, verschiedene Lösungswege keine Rolle?
5.) “Die Schüler müssten einen Sachkontext mathematisieren”. Die Sachkontexte der allermeisten Aufgaben sind an den Haaren herbeigezogen. Von einer sinnvollen, nützlichen Modellierung kann nicht die Rede sein.
6.) “Er vergleicht Äpfel mit Birnen.” Warum sollte man nicht Äpfel mit Birnen vergleichen? Dies ist vor allem dann angezeigt, wenn durch den Einfluss der Didaktoren aus einem reifen, fruchtigen Apfel eine verfaulte Birne geworden ist.
Wir würden es außerordentlich begrüßen, wenn die Süddeutsche Zeitung in Zukunft besser und kritischer über den “inzwischen völlig anderen didaktischen Geist” berichten würde. Dazu empfehlen wir dringend die Lektüre folgender Artikel auf unserem Blog bzw. dem Blog von Franz Lemmermeyer:
- “Von allen guten Geistern verlassen: Fehlentwicklungen des Bildungssystems am Beispiel Mathematik”
- “‘Der langsame Tod der Analysis’: eine Begräbnisrede von Thomas Sonar”
- “Grober Fehler im Schulbuch für Mathematik von Bigalke/Köhler”
- “Noch mehr Pippi-Langstrumpf-Mathematik von Bigalke/Köhler”
- “Abwicklung des Mathematikunterrichts: ‘Des Didaktors neue Kleider’ von Franz Lemmermeyer”
- “Realitätsnahe Aufgaben III”
- “Realitätsnahe Aufgaben IV”
- “Mathematisch Argumentieren”
- “Wozu ist das gut?”
Ich zitiere mal aus einer Email, die ich am 26.07. an HP Klein und andere geschrieben habe:
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Ich hab mal etwas das Internet durchforscht, das diesen Herrn Lewandowsky fast nicht kennt. Er wurde vom Spiegel im Zusammenhang mit den Petitionen zum “Prüfungs-Experten” promoviert, und als solcher wird er jetzt weitergereicht.
Tatsächlich ist er weder Lehrer, noch Didaktiker, sondern beim Stark-Verlag für die Abiturvorbereitungsbücher in Mathematik und Physik zuständig. Seine Behauptung, früher wären die Funktionen im Gegensatz zu heute vom Himmel gefallen, ist schon eine dreiste Lüge. Dass man Zu- und Abfluss von Wassertanks “mathematisieren” muss, mag stimmen, allerdings ist das keine
intellektuelle Leistung, weil man diese Aufgabe ab Klasse 8 jedes Jahr ein halbes Dutzend Mal in allen Variationen durchhechelt. Woher er so viel
darüber weiß, für welche Schüler das Mathe-Abi heute leichter oder schwere sein soll als früher, bleibt sein Geheimnis – unterrichtet hat er jedenfalls noch nie. Und wenn ihn als promovierten Physiker nicht das nackte Grauen packt, wenn in Mathematikbüchern steht, dass sich abgeschossene Pfeile auf Geraden bewegen (Parabelbahnen sind für unsere Abiturienten zu schwer), dann sollte er wenigstens nicht vom neuen didaktischen Geist schwadronieren, der sich inzwischen in den Schulen breitgemacht hat.