FDP-Fraktion fordert “mehr Lust auf Leistung in der Schule”
Manche vom Schulausschuss angehörte Sachverständige äußern sich kritisch zum Antrag der Freien Demokraten: “Auf keinen Fall ist es motivations- und leistungsförderlich, den Einsatz von Noten zu verstärken, wie im vorliegenden Papier gefordert.”
Die FDP-Fraktion im Landtag Nordrhein-Westfalen hat Anfang des Jahres einen Antrag gestellt. Titel: “Mehr Lust auf Leistung in der Schule!” (Drucksache 18/7761).
Darin heißt es unter anderem:
Die Qualität der schulischen Bildung muss wettbewerbsfähig sein. […] Die Vergabe von Schulnoten wird in Frage gestellt, Wettbewerbe wie die Bundesjugendspiele werden marginalisiert […] Das ist ein fataler Trend! Bildung sollte vielmehr wieder auch Lust auf Leistung entfachen. Sie wird dann selbstwirksam, wenn sie zugleich Neugier, Wissensdurst und Kreativität fördert. […]
Leistungsanreize und Leistungsbeurteilungen sind eine wichtige Grundlage für die individuelle Förderung – sowohl von leistungsschwächeren als auch von leistungsstarken Schülerinnen und Schülern. Sie sind zwingend notwendig für die pädagogische Diagnostik. […] Die Vergleichbarkeit von Bewertungen und Abschlüssen ist ein wichtiges Instrument, um die Qualität zu kontrollieren und zu steuern. […]
Wir fordern daher einen Leistungskonsens der für Bildung zuständigen 16 Bundesländer mit einem Bekenntnis zu Noten als Diagnostik-, Evaluations- und Förderinstrument einer kindgerechten Pädagogik in Schulen und einem hohen deutschlandweiten Standard. […] Das Leistungsprinzip in der Schule meint im klassischen Sinne Leistung als Erreichen von Lernzielen. […]
Als Freien Demokraten wollen wir den Leistungsgedanken im Sport stärken. Die Bundesjugendspiele beispielsweise bieten den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu zeigen, dass sie auf Ziele hinarbeiten und über sich hinauswachsen können. Wettkämpfe dieser Art sind von zentraler Bedeutung, damit Kinder und Jugendliche erlernen, sich in langfristiger Fokussierung, ausdauerndem Üben und im Erreichen zielgenauer Standards zu erproben. […]
Sport ist für die körperliche und geistige Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und das Ausbilden eines Wettkampfgeistes unverzichtbar. […] Es ist unser Anliegen, den Wettkampfcharakter der Bundesjugendspiele in allen Altersgruppen wieder zu fördern, um den Spaß an Sport und Training zu wecken und zu einem selbstverständlichen Alltagsbestandteil zu machen.
Am 11. Juni 2024 tagte der Ausschuss für Schule und Bildung des Landtags. Es fand eine Anhörung von “Sachverständigen” zum FDP-Antrag statt. Geladen waren laut Tagesordnung Vertreter des Landessportbunds, des Philologen-Verbands NRW, des Verbands der Lehrerinnen und Lehrer an Berufskollegs in NRW, der Landesschülervertretung, der Primusschule Viersen, der Evangelischen Schulstiftung in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), der Laborschule Bielefeld (Versuchsschule des Landes NRW), von “Teach First Deutschland” und der Landeselternschaft der Gymnasien.
Von den meisten Sachverständigen lagen schriftliche Stellungnahmen vor.
In der Stellungnahme des Philologen-Verbands NRW (Drucksache 18/1518) heißt es:
Der Philologenverband NRW (PhV NRW) steht für ein begabungs- und leistungsorientiertes vielgliedriges Schulsystem mit differenzierten Bildungsabschlüssen. Den Trend, Leistungskriterien bei Schulabschlüssen und Sportveranstaltungen im deutschen Bildungssystem zu nivellieren, finden wir bedenklich. […]
Wir setzen uns für eine transparente und objektive Leistungsbewertung ein. Schulnoten sind ein wichtiges Instrument, um den Lernfortschritt vergleichbar zu messen und individuelle Stärken, aber auch Schwächen, zu erkennen. […]
Der Antrag fordert zu Recht die bundesweite Vergleichbarkeit von Bewertungen und Abschlüssen. […] Insgesamt begrüßen wir den FDP-Antrag, der die Bedeutung des Leistungsprinzips in der Schule hervorhebt.
In der Stellungnahme der Landeselternschaft der Gymnasien in Nordrhein-Westfalen (Drucksache 18/1550) ist zu lesen:
Derzeit herrscht in vielen Lerngruppen ein Klima, in dem Lerneifer und Engagement mit Strebertum gleichgesetzt wird. Etliche Kinder werden von Stufe zu Stufe weitergereicht, ohne wirklich fit den nächsten Schritt zu sein. […]
Zugleich muss Schule Kinder und Jugendliche auf ein selbstbestimmtes Leben vorbereiten. Wettbewerbssituationen und Leistungsdruck werden auf jeden Fall Teil dieses Lebens sein, sei es in Studium, Ausbildung und Beruf, sei es im Privatleben. Schüler sollten daher frühzeitig lernen, mit solchen Situationen umzugehen. […] Schulen ohne Leistungsdruck und Noten tun sich schwer damit, Kinder zum Lernen zu motivieren, die weder eigenen Antrieb haben noch eine aufmerksame, fördernde Begleitung des Elternhauses erfahren. […]
Die Landeselternschaft der Gymnasien spricht sich für die Stärkung und Erhaltung des gegliederten Schulsystems aus. […] Ziffernnoten bieten die Möglichkeit des Vergleichs und der Einordnung — auch für Schüler untereinander. Sie können ihre Stärken genauso erkennen wie Bereiche, die noch der Anstrengung bedürfen. […] Die bundesweite Vergleichbarkeit ist aus unserer Sicht notwendig […]. […]
Wettkampf und Leistungsorientierung im Sport bieten einerseits hervorragende Anreize, Leistung zu erbringen, wovon gerade Schüler profitieren können, die sich in den anderen Unterrichtsfächern schwertun. Beständige Misserfolge dagegen können zur Ablehnung bis hin zur generellen Verweigerung von Sport führen.
Der Landessportbund NRW schreibt in seiner Stellungnahme (Drucksache 18/1521):
Der Landessportbund stimmt der Feststellung im FDP-Antrag ohne Einschränkungen zu, dass das Leistungsprinzip künftig wieder stärker zur Geltung kommen sollte, und zwar in allen genannten Bereichen: […].
Wir beziehen uns als Sportorganisation auf das Leistungsprinzip im Schulsport und verweisen auf den Artikel “Lust oder Frust auf Leistung” (vom 26.07.2023) von Prof. Helmut Digel in der Zeitschrift Leistungssport. In dem Artikel wird festgestellt: “Institutionen, in denen das Leistungsprinzip seine Gültigkeit hat, haben sich bei der Entwicklung demokratischer Gesellschaften als besonders geeignet und anschlussfähig erwiesen. Dies gilt für das Bildungssystem, für die Wissenschaft, für Kunst und Kultur gleichermaßen, wie es aus naheliegenden Gründen vor allem für den Bereich der Wirtschaft gelten sollte. Der Wettkampfsport hat sich als ein besonders wichtiges Beispiel zur Demonstration des Leistungsprinzips erwiesen. Eine Kultur des Wettbewerbs und Wettkampfs ist eine geradezu ideale Grundlage für die Weiterentwicklung von demokratisch verfassten Gesellschaften. Damit der Sport eine wichtige Rolle in einer solchen Kultur des Wettbewerbs und der Wettkämpfe spielen kann, ist es wichtig, dass er das Leistungsprinzip in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen im Schulsport, im Sport an Universitäten, im Sport, in Vereinen, bei nationalen und internationalen Wettkämpfen, in Wettkämpfen für alle Altersgruppen und in einem für alle Menschen zugänglichen offenen Wettkampfsportangebot aktiv und demonstrativ zum Ausdruck bringt. Es müsste geradezu eine Selbstverständlichkeit sein, dass man in pädagogischen Situationen für die zu betreuenden Kinder und Jugendlichen die geeigneten Gütekriterien definiert, um deren Leistung und deren Leistungsentwicklung einzuordnen, zu messen und zu qualifizieren […]” (aus Leistungssport 5/2023 […]). […]Wir brauchen Herausforderungen, Leistungssituationen und Wettkämpf. Wir brauchen Hürden, die es zu überwinden gilt oder Situationen, in denen sich der Nachwuchs beweisen kann.
Nur so haben Kinder und Jugendliche die Möglichkeiten sich kognitiv, emotional und motorisch zu entwickeln. Nur so haben Sie die Möglichkeit ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten realistisch einzuschätzen. Und nur so können Sie eine Beziehung dazu entwickeln, dass es notwendig ist für seine Ziele nachhaltig zu arbeiten und zu trainieren. Einhergehend damit müssen wir eine bessere Kultur entwickeln wie wir mit Misserfolgen, Kritik und Scheitern umgehen. Wir müssen dem Nachwuchs vermitteln, dass es gut, wichtig und mutig ist sich Herausforderungen zu stellen.
Georg Balster, Schulleiter der Primus Schule Viersen, schreibt in seiner Stellungnahme (Drucksache 18/1516):
Sehr viele Schüler*innen sind in jungen Jahren (Grundschule) hochmotiviert und Willens zu lernen – sie haben Lust auf Wissen. Aber das Schulsystem erstickt diese Lust sehr häufig, indem es die individuellen Talente und die Interessen der Schüler*innen einem scheinbar übermächtigen objektiven Leistungsziel gegenüberstellt. […]
Motivation durch Wettbewerb schafft einige Gewinner und viele Verlierer! Verlierer, die Kinder oder Jugendliche sind! Verlierer, deren Selbstbewusstsein sehr gering ist und hochwahrscheinlich bleibt! Verlierer, die keine Lust mehr auf Lernen haben! Wie will die Gesellschaft mit diesen Verlierern umgehen? Welche Aufgabe sollen diese Menschen in der Zukunft übernehmen? […]
Noten sind eine sehr unzureichende Beschreibung von Leistung. […] Noten und der dadurch zwangsläufig entstehende Notendruck verängstigt viele Kinder. Je jünger die Kinder sind, umso ausgeprägter ist die Angst. Sie lernen, dass sie den Ansprüchen anderer genügen müssen, dass sie oft nicht genügen, dass andere immer besser sind als sie. Dies macht viele junge Menschen mutlos und auch motivationslos. […]
„Die Vergleichbarkeit von Bewertungen und Abschlüssen ist ein wichtiges Instrument, um die Qualität zu kontrollieren und zu steuern.“ Wenn dies so ist, warum schafft es bisher keine NRW-Regierung die Qualität zu steigern? […]
Noten sind für viele Menschen (alt wie jung) eher angstbesetzt. Sie werden als notwendiges Übel angesehen und werden insgeheim häufig zur Disziplinierung genutzt. […]
An der Primus Schule fehlen keine Noten. Die Schüler*innen artikulieren häufig, dass mit der Benotung ab dem 9. Schuljahr plötzlich ein Druck entsteht und dass sie dadurch Ängste um ihren Abschluss und ihre Zukunft haben.
Björn Nölte, Referent in der Schulaufsicht der Evangelischen Schulstiftung in der EKBO, schreibt in seiner Stellungnahme (Drucksache 18/1555):
Sie [Schüler und Schülerinnen der ESBZ-Gemeinschaftsschule in Berlin] erhalten beim Eintritt in die Oberstufe in ihrer gesamten Schullaufbahn erstmals Noten. Von da an, so berichten diese Schüler*innen, machten sie nur noch so viel, wie für eine gute Note nötig sei. Ihre Leistung nimmt ab, sie arbeiten viel weniger zusammen, identifizieren sich durch die Fremdbestimmung von Aufgabe und Bewertung weniger mit den Inhalten und Zielen und sehen sich nach der notenfreien Zeit projektorientierten Lernens, in denen sie ihre Leistungen erheblich höher einschätzten. Diese Schüler*innen sind zur Bestimmung des Verhältnis von Noten und Leistung aussagefähiger als Schüler*innen und Eltern, die durchgängig notensozialisiert sind.
Um Eigenverantwortung und damit Leistungsfähigkeit zu steigern, sollten also die Bedeutung von Noten in der Schule eher minimiert werden. Wo es möglich ist, wie an Gemeinschaftsschulen in mehreren Bundesländern, sollte auf Noten verzichtet werden. Auf keinen Fall ist es motivations- und leistungsförderlich, den Einsatz von Noten zu verstärken, wie im vorliegenden Papier gefordert. […]
Zu glauben, dass schulische Leistung im Sinne des vorliegenden Papiers objektiv messbar ist, kommt einem gefährlichen Fehlschluss gleich. Seit Jahrzehnten belegen viele Studien die Fehleranfälligkeit schulischer Leistungsbewertung. Auch die Vorstellung von messbarer Einzelleistung ist ein Relikt aus der Zeit der industriellen Produktion.
In der Stellungnahme des Verbands der Lehrerinnen und Lehrer an Berufskollegs in NRW (vlbs) heißt es (Drucksache 18/1530):
Die Aufgabe eines Bildungssystems „Lust auf Leistung“ im Sinne eines sportlichen Wettkampfes zu generieren verfehlt aus Sicht des vlbs vollkommen die Aufgabe eines Bildungssystems in einem demokratischen Land. […]
Der Leistungsbegriff im Antrag der FDP trifft aus Sicht des vlbs nicht den Kern der Problemstellung in der Gesellschaft und sollte überdacht werden. Der skizzierte antiquierte Leistungsbegriff erzeugt Gewinner und Verlierer. Ein gutes Bildungssystem ermöglicht allen Menschen gute Möglichkeiten des individuellen und geförderten Aufstiegs, ohne den Makel „gescheitert“ zu sein. […]
Mit der Forderung nach mehr Leistung in Schule, ohne sich dem Thema der Bildungsgerechtigkeit zu widmen, wird der Druck auf Schüler:innen durch Leistungsbewertung erhöht. Es muss gewährleistet sein, dass die Chancen gerechter werden, denn gerechte Noten guten Gewissens zu vergeben bedeutet auch im Vorfeld vergleichbare Ausgangslagen zu schaffen.
In der Stellungnahme des Schulleiters der Laborschule Bielefeld, Rainer Devantié, heißt es (Drucksache 18/1478):
Die Laborschule ist eine Schule, in der Lernen nicht durch Zwang gefördert wird – in der Notengebung und darauf aufbauend Auslese als pädagogische Mittel weitgehend ausscheiden. Sie ist eine Schule, in der Kinder und Jugendliche zum Lernen ermutigt, nicht durch Noten belobigt oder gedemütigt werden. […] Dass Kinder ohne Noten, ohne Vergleich und ohne Konkurrenz nicht bereit seien, sich anzustrengen, ist eine Behauptung, die sich vielleicht bestätigt, wenn Kinder so aufwachsen, aber schon lange nicht mehr überzeugt, zumal es für sie auch nicht eine einzige, sie bestätigende empirische Untersuchung gibt. […]
In dem Antrag wird Finnland als Vorbild, gerade im Bereich der Lehrer*innenausbildung, gesehen. Die Idee, die finnische Lehrer*innenausbildung als Vorbild zu wählen, kann ich auch aufgrund meiner langen Tätigkeit als Lehrer in Finnland nur unterstützen. […]
Die Lehrer*innenausbildung ist jedoch nicht zu trennen von der so ganz anderen Bildungsphilosophie Finnlands, die bereits Ende der der 60iger Jahre zur Abschaffung des gegliederten Schulsystems bis zum Ende der 9. Klasse führte. „Die hierarchischen Schulstufen erschienen als das Relikt der Ständegesellschaft des 19. Jahrhunderts.“ (Domisch, S. 56) […]
Finnland ist also das Land, in dem es eine „Schule für alle“, die niemanden zurücklässt, gibt und damit große bildungspolitische Erfolge erzielt hat.
In der Dreigliedrigkeit wurde dort nicht nur ein Relikt der Ständegesellschaft gesehen, sondern die unterschiedlichen Schulformen wurden auch als Problem für eine demokratische Kultur begriffen, wenn von Beginn an Kinder in unterschiedlichen Schulformen ausgelesen werden und das Zusammenleben in der Gesellschaft nicht in der Schule erlernt werden kann.
In der Fixierung auf Noten und dem Bekenntnis zum gegliederten Schulsystem liegt sicherlich der größte Unterschied im Denken zu dem seit 50 Jahren erfolgreichen Konzept der Laborschule und dem vorliegenden Antrag.
Von der Landesschülervertretung und von “Teach First Deutschland” waren keine schriftlichen Stellungnahmen zu finden.