Landtag und Ministerin debattieren unzulänglich über Mobbing in der Schule

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Hat keiner der Abgeordneten Jesper Juul oder Arno Gruen gelesen?

Die AfD-Fraktion im Landtag Nordrhein-Westfalen hat am 29. September 2020 einen Antrag eingereicht: “Mobbing und Gewalt an Schulen – Wir brauchen eine valide Datenbasis!”. Am 7. Oktober wurde darüber im Plenum debattiert.

Jesper Juul wurde leider von keinem Parlamentarier zitiert:

Eine dänische Untersuchung hat gezeigt, dass an Schulen, an denen es Mobbing unter Schülern gibt, auch Mobbing unter Lehrern vorkommt. Mobbing entsteht infolge eines Führungsproblems, das die gesamte Schule, nicht nur die Schüler betrifft. […] Die skandinavischen Länder haben viel Geld in Mobbingprogramme investiert, die jedoch relativ wirkungslos bleiben, weil es sich im Kern wie gesagt um Führungsprobleme handelt.

Auch unser Artikel “Gründe für Aggressionen bei Schülern” mit einem Zitat von Arno Gruen ist offenbar noch nicht im Landtag gelesen worden.

Im Folgenden beleuchten wir im Schnelldurchgang, was die Abgeordneten und die Ministerin für Schule und Bildung in der Debatte zu dem Antrag der AfD-Fraktion bzw. zum Thema “Mobbing und Gewalt in der Schule” gesagt haben, und zwar anhand einzelner, unserer Einschätzung nach auffälliger Zitate. Grundlage ist das Plenarprotokoll 17/102 vom 07.10.2020.

Als erstes sprach der Abgeordnete Helmut Seifen (AfD). Er sagte:

Wenn wir also ernsthaft die besorgniserregenden Entwicklungen an den Schulen bekämpfen und unseren Kindern eine friedliche Lernatmosphäre garantieren wollen, müssen wir zunächst einmal eine Bestandsaufnahme machen, um dann mit den richtigen Mitteln den Unfrieden in der Schule zu beseitigen. […]

Wir haben die Pflicht, jedem zu signalisieren, dass wir diese Gewalt nicht dulden, dass solche Übergriffe in den Schulen bemerkt werden, aufgezeichnet werden und analysiert werden, um sie dann zu bekämpfen. Dann können konsequent geeignete Maßnahmen ergriffen werden, die den Schulfrieden wieder herstellen und die Kinder schützen.

Was die “richtigen Mittel” und die “geeigneten Maßnahmen” sind, sagte der Abgeordnete nicht.

Frank Rock, damals schulpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion (inzwischen Landrat des Rhein-Erft-Kreises), machte sich zunächst über die AfD lustig:

Woran hat et jelegen? Man fragt sich immer: Woran hat et jelegen – man weiß et nit, woran et jelegen hat –, dat wir wieder einen ziellosen Antrag der AfD hier vorliegen haben? Ich weiß et nit, woran et jelegen hat.

Das Protokoll vermerkt “Heiterkeit und Beifall von der CDU und der FDP”. (Wir vermuten, Rocks Worte waren eine Anspielung auf dieses Interview mit einem Fußballer.)

Mobbing hat viele Ursachen und viele Verursacher.

Welche Ursachen und Verursacher es sind, sagte der Abgeordnete nicht.

Die Tatsache, dass Mobbing in den letzten Jahren ständig zugenommen hat, erklären Psychologen und Soziologen mit erstens großen Veränderungen in der Gesellschaft, zweitens mit Belastungen, die Kinder in ihren Familien erleben, wenn es um berufliche und finanzielle Sicherheit geht, und drittens mit Vernachlässigung in der Erziehung.

Eine Veränderung, die angebliche Zunahme des Mobbings, wird unter anderem mit einer Veränderung erklärt — grandios! Wie kommt es denn zu den Belastungen und der Vernachlässigung? Dazu sagte der CDU-Mann nichts.

Mobbing gehört zu den Themen, die an und in Schule angegangen werden müssen und auch angegangen werden. So wird zum Beispiel mit Mitteln des Kinder- und Jugendförderplans des Landes Nordrhein-Westfalen die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW gefördert. […]

Weiterhin gibt es Schulberatungsstellen und den Schulpsychologischen Dienst, der ausreichend Beratung anbietet.

Anhand dessen sehen Sie doch, dass es Möglichkeiten gibt – wenn sie konsequent ausgeschöpft werden –, die Verursacher zur Rechenschaft zu ziehen.

Mit dem Kinder- und Jugendförderplan, Schulberatern und dem Schulpsychologischen Dienst werden Verursacher zur Rechenschaft gezogen? Wie?

Nach Frank Rock sprach Ina Spanier-Oppermann (SPD):

Die Herausforderung ist es nun, präventive Ansätze zu finden und gezielt gegen Mobbing in der Schule vorzugehen.

Man hat präventive Ansätze also noch gar nicht gefunden? Und: Wer hätte das gedacht, dass die Herausforderung beim Problem Mobbing ist, gegen Mobbing vorzugehen?

Sie [die AfD-Fraktion] schreiben aber bedauerlicherweise nichts in Ihren Antrag, was zu einer Lösung des Problems führen könnte.

Wir sind gespannt, welche Lösung des Problems die SPD-Abgeordnete vorschlagen wird.

Offenbar haben Sie kein Interesse daran, Mobbing wirklich von seiner Wurzel her zu verhindern. Sie wollen sanktionieren.

Wir sind gespannt, was die Abgeordnete vorschlagen wird, um “Mobbing wirklich von seiner Wurzel her zu verhindern”.

Wir müssen allen möglichen Tätern klarmachen, dass schwere Mobbinghandlungen strafbar sein können.

Der AfD wird vorgeworfen, sie wolle sanktionieren, aber selber will die SPD auf die Strafbarkeit von Mobbinghandlungen hinweisen. Hat das nichts mit “sanktionieren” zu tun?

Hier hilft es aber aus meiner Sicht wenig, Karteien anzulegen. Vielmehr müssen wir präventiv aufklären, aufzeigen, anzeigen und vor allem begleiten.

Wer soll wen worüber aufklären? Wer soll wem was aufzeigen? Wer soll wen oder was anzeigen? Wer soll wen wobei begleiten? Verhindert man so Mobbing “von seiner Wurzel her”?

Neben diesen eher vagen Aussagen hat die Abgeordnete allerdings einen äußerst wichtigen Satz gesagt:

Ein System, das selbst auf Angst und Mobbing ausgelegt ist, kann keine Atmosphäre der Sicherheit und eine von Respekt und Achtsamkeit geprägte Haltung nach sich ziehen.

Sie hat dies allerdings offenbar nicht als Kritik am bestehenden Schulsystem gemeint — was berechtigt gewesen wäre (siehe Jesper Juul) –, sondern als Warnung vor einem „Gewaltmonitoring an Schulen“. Unmittelbar vorher sagte sie nämlich:

Sie machen keinerlei Vorschläge, wie wir das eigentlich angehen sollen. Kann eine Datenbank „Gewaltmonitoring an Schulen“ wie in Schleswig-Holstein ein Baustein einer Lösung sein? Oder sollten wir von solchen Instrumenten Abstand nehmen? Denn wie leicht -– das wissen wir alle -– können solche Instrumente missbraucht werden.

Weiterhin sagte Spanier-Oppermann:

Die Lösung ist nicht Stigmatisierung, sondern vielmehr die Maxime Handeln und Helfen. Wir brauchen mehr Schulsozialarbeiter und mehr Personal an den Schulen.

Geht das an die Ursache des Problems? Verhindern mehr Schulsozialarbeiter und mehr Personal das Mobbing “von der Wurzel her”?

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die Kontextprobleme von Mobbing beseitigen.

Was sind die denn die “Kontextprobleme von Mobbing”? Und wie beseitigt man diese?

Der Überweisung in unseren Schulausschuss stimmen wir zu, auch wenn dieser Antrag dem wichtigen Thema „Mobbing“ so von seinem Inhalt her nicht gerecht wird.

Sprechblasen werden dem wichtigen Thema “Mobbing” auch nicht gerecht.

Als nächstes sprach Franziska Müller-Rech (FDP):

Das Thema „Mobbing“ ist sehr ernst. […] Es ist unsere Aufgabe, dass wir Mobbing beenden und den Opfern helfen.

Ein sehr anspruchsvolles Ziel, das Mobbing zu beenden! Wie will die Abgeordnete es erreichen?

Das macht mich wirklich wütend. Es geht der AfD hier nicht um eine Lösung des Problems. Denn ansonsten hätte es hier in diesem Antrag Worte zur Hilfe für die Opfer gegeben.

Nichts gegen Hilfe für die Opfer — aber ist das eine Lösung des Problems? Wird Mobbing dadurch beendet? In ihrer wohl oder übel kurzen Rede hatte die Abgeordnete dem Antrag der AfD nichts weiter entgegenzusetzen.

Mal schauen, was Sigrid Beer (Grüne) zu sagen hatte:

Ich möchte gern den 18.04.2018 in Erinnerung rufen. Dr. Catarina Katzer vom Institut für Cyberpsychologie & Medienethik hat in der Anhörung zum Thema „Cybermobbing“ wie folgt ausgeführt: “[…] Unsere deutsche Studie hat gezeigt, dass jedes fünfte jugendliche Cybermobbingopfer suizidgefährdet ist. Die Problematik ist also da.”

Weil diese Problematik da ist und sie so gravierend ist, haben wir sie mit einem Antrag aufgegriffen, der schließlich von den vier demokratischen Fraktionen hier auch getragen und weiterentwickelt worden ist. Deswegen haben wir uns als Landtag sehr ernsthaft mit dieser Problematik auseinandergesetzt, und das Ministerium hat die Dinge, die in dem Antrag niedergeschrieben sind, auch entsprechend konsequent weitergeführt.

Das steht zu bezweifeln.

Anja Niebuhr aus dem Zentrum für Schulpsychologie in Düsseldorf hat ausgeführt:

„Was ist das Wichtigste, was die Schule tun kann? Da sehe ich das Übernehmen von Verantwortung als zentralen Punkt an.“

Das ist in der Tat so: Verantwortungsübernahme auf allen Ebenen. Deswegen müssen wir die Menschen in den Schulen stärken, damit diese Verantwortung gelingen kann.

Geht es vielleicht ein bisschen konkreter?

Als nächstes sprach Yvonne Gebauer, Ministerin für Schule und Bildung:

Die physische und psychische Unversehrtheit und das Wohlergehen aller Mitglieder unserer Schulgemeinschaften sicherzustellen, ist Aufgabe aller Verantwortlichen in Schulaufsicht, aber auch in Schulen.

Es bleibt offen, wie gut diese Aufgabe erfüllt wird. Die Bezirksregierung Arnsberg hat sich als obere Aufsichtsbehörde im Fall Bönen nicht besonders mit Ruhm bekleckert.

Wir wissen alle, dass Prävention der beste Schutz ist, um im Vorfeld Konflikte, Gewalt und auch Mobbing zu vermeiden.

Ja, wir wissen alle, dass 3 + 1 = 2 + 2 ist. Oder wie Bundeskanzlerin Angela Merkel laut Volker Pispers so schön nichtssagend formulierte:

Um die Probleme im Nahen Osten in den Griff zu bekommen, müssen wir eine gemeinsame Lösung finden.

Was es alles für tolle Präventionsmaßnahmen und -programme gibt, zählte die Minsterin auf, unter anderem:

Im Mai des vergangenen Jahres haben wir den Aktionsplan „Für Demokratie und Respekt – Entschieden gegen Diskriminierung und Gewalt“ veröffentlicht. Darin ist zum Beispiel festgeschrieben, dass sowohl die Themenbereiche Kindeswohlgefährdung, sexuelle Gewalt und sexueller Missbrauch als auch Mobbing in der Schule mindestens einmal im Jahr innerhalb jeder Schulgemeinschaft in einem geeigneten Rahmen zu thematisieren sind. Dies kann in Form von Einzelgesprächen, von Lehrerkonferenzen, von pädagogischen Tagen, von Projektwochen oder auch Fortbildungsmaßnahmen erfolgen.

Hat in Bönen vermutlich vorbildlich funktioniert.

Selbstverständlich geben wir auch im Bildungsportal umfangreiche Hinweise zu den Themen Prävention, Mobbing und Cybermobbing, welche permanent aktualisiert werden.

Das bringt’s natürlich.

Unsere Schulen setzen sich mit großem Engagement dafür ein, Mobbing und Gewalt zu verhindern, aber auch gegebenenfalls zu bekämpfen.

Die Worte hör’ ich wohl…

Durch die B A D, das ist der Ansprechpartner für Gesundheitsschutz für unsere Lehrkräfte, stehen unseren Lehrkräften auch Ansprechpartner für den Gesundheitsschutz zur Seite. Darüber hinaus enthält auch der Medienkompetenzrahmen Nordrhein-Westfalen wichtige Hinweise zum Thema „Cybermobbing“.

Allen Schulen steht zudem der Notfallordner „Hinsehen und Handeln“ zur Verfügung, der wiederum Hinweise zum Thema „Mobbing“ enthält.

Das packt das Problem bei der Wurzel.

Meine Damen und Herren, wir sehen als Landesregierung hin, und wir handeln.

Wie in Bönen.

Das Beste an der Rede der Ministerin war ihre Erinnerung an die “legendären Zitate” des ausscheidenden Abgeordneten Frank Rock:

Da muss mehr Fleisch an den Fisch.

Das greifen wir gerne auf: Bei der Diskussion des Problems Mobbing muss mehr Fleisch an den Fisch. Wir empfehlen jedem in der Schulpolitik aktiven Parlamentarier zum Einstieg das Buch “Schulinfarkt. Was wir tun können, damit es Kindern, Eltern und Lehrer besser geht” von Jesper Juul. Zur Vertiefung bietet sich “Hass in der Seele. Verstehen, was uns böse macht” von Arno Gruen und Doris Weber an. Es kann nur besser werden.



PS:
Die Süddeutsche Zeitung berichtet heute über eine Studie des Psychologen Stefan Pfattheicher (“Hauptsache, es passiert was. Langeweile kann Menschen dazu verleiten, andere zu ärgern”, S. 1, online hier):

Zu den wenigen bleibenden Lektionen der Schulzeit zählt die Einsicht, dass Langeweile die Geburt blöder Ideen fördert. […] Mit Kollegen hat der Psychologe der dänischen Universität Aarhus nun eine große Studie publiziert, die zeigt: Auch Erich Fromm lag wohl richtig, Langeweile kann sogar zu sadistischem Verhalten verleiten.

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