Liebe FDP, wo bleibt die pädagogische Freiheit?
Wie will man Kinder und Jugendliche in einem freiheitlichen Geist erziehen, wenn Lehrer kaum Freiheit bei der Gestaltung ihres eigenen Unterrichts haben?
Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen. Am 15. Mai wird der Landtag neu gewählt. Die FDP tritt unter anderem mit folgenden Slogans an: “Wirtschaft braucht keine Bürokraten. Sondern Freie Demokraten” und “Freiheit ist systemrelevant”.
Schön wäre es, wenn sich die FDP vehement für die pädagogische Freiheit der Lehrer einsetzen würde. Die wird nämlich durch kleinkarierte Lehrpläne und zu viel Bürokratie seit Jahren untergraben. Besonders deutlich wird dies an den Kernlehrplänen von 2019 für das G9-Gymnasium. Verantworlich dafür ist das FDP-geführte Schulministerium. In diesen Lehrplänen werden nicht nur die Inhalte vorgegeben, sondern da wird auch detailliert vorgeschrieben, welche Inhalte die Schüler mit digitalen Medien (bzw. “Werkzeugen”) lernen müssen (ausführlich siehe hier). Zum Beispiel in Sport:
- “Bewegungsgestaltungen allein oder in der Gruppe auch mit Hilfe digitaler Medien nach-, um- und neugestalten”
- “sportliche Leistungen analog oder digital erfassen und anhand von graphischen Darstellungen und/oder Diagrammen dokumentieren”
Oder in Mathematik:
- “erkunden geometrische Zusammenhänge (Ortslinien von Schnittpunkten, Abhängigkeit des Flächeninhalts von Seitenlängen) mithilfe dynamischer Geometriesoftware”
Oder in Englisch:
- “den eigenen Lernfortschritt anhand einfacher, auch digitaler Evaluationsinstrumente einschätzen sowie eigene Fehlerschwerpunkte bearbeiten”
“Digital first, Bedenken second”, das Motto der FDP von 2017, wurde gnadenlos vom FDP-geführten Schulministerium umgesetzt. Die pädagogische Freiheit, insbesondere die Methodenfreiheit, ist dabei auf der Strecke geblieben. Liebe FDP: Wie will man Kinder und Jugendliche in einem freiheitlichen Geist erziehen, wenn Lehrer kaum Freiheit bei der Gestaltung ihres eigenen Unterrichts haben?
Anhang
Zum Vertiefen und Weiterlesen:
1.) Zu den neuen G9-Kernlehrplänen in Verbindung mit digitalen Medien: “Medienkompetenzrahmen NRW: Was für ein kleinkarierter, seelenloser Quatsch!”
2.) In der “Allgemeinen Dienstordnung für Lehrerinnen und Lehrer, Schulleiterinnen und Schulleiter an öffentlichen Schulen” (Erlass des Schulministeriums) heißt es (§ 5):
(1) Es gehört zum Beruf der Lehrerinnen und Lehrer, in eigener Verantwortung und pädagogischer Freiheit die Schülerinnen und Schüler zu erziehen, zu unterrichten, zu beraten, zu beurteilen, zu beaufsichtigen und zu betreuen. Dabei ist der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule nach Verfassung (BASS 0-2) und Schulgesetz NRW zu beachten.
(2) Lehrerinnen und Lehrer sind an Vorgaben gebunden, die durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften, Richtlinien und Lehrpläne sowie durch Konferenzbeschlüsse und Anordnungen der Schulaufsicht gesetzt sind. Konferenzbeschlüsse dürfen die Freiheit und Verantwortung der Lehrerinnen und Lehrer bei der Gestaltung des Unterrichts und der Erziehung nicht unzumutbar einschränken.
(3) Schulleiterinnen und Schulleiter dürfen in die Unterrichts- und Erziehungsarbeit der Lehrerinnen und Lehrer nur im Rahmen ihrer Befugnisse (§§ 20 ff.) im Einzelfall eingreifen.
3.) Aus “Im Hamsterrad — Schule zwischen Überlastung und Anpassungsdruck” von Jochen Krautz:
Dabei, diese Frage zu beantworten und eine andere Haltung zu gewinnen, hilft das Bewusstsein für die eigene pädagogische Freiheit: Zum meisten von dem, was als alternativlos daherkommt, können Lehrer und Schulen nicht gezwungen werden. Sie verfügen über eine rechtlich garantierte pädagogische Freiheit – nicht um ihrer selbst willen, sondern um den Schülern möglichst optimal gerecht werden zu können (vgl. Krautz/Burchardt 2018). Nur in Freiheit aber ist pädagogische Verantwortung lebbar. Keine Verantwortung ohne Freiheit. Sonst wird eben dieses pädagogische Verantwortungsgefühl missbraucht, um uns im Hamsterrad rotieren zu lassen.
4.) Aus “Vom magischen Dreieck der Pädagogik” von Carl Bossard:
Die Fächerfülle steigt, die Regelungsdichte nimmt zu, die Vorschriften intensivieren sich, die Strukturen werden enger, die Schuladministration wächst – und damit auch die Zahl der Akteure. Das schwächt den pädagogischen und menschlichen Spielraum der Lehrperson; das schnürt ihren Freiheitsraum spürbar ein.
5.) Aus “Vom Wert pädagogischer Freiheit” von Carl Bossard:
Eine wirksame Bildungspolitik müsste mehr an den Menschen glauben und weniger an Systeme und Strukturen. Gute Lehrerinnen, gute Lehrer mit mitmenschlichem Einfühlungsvermögen und fachlicher Leidenschaft sind der Kern der Schule. Sie brauchen aber Freiheiten – nicht mehr Vorschriften. Sie brauchen Vertrauen – und keinen Druck durch Dekrete.
Humane Energie kommt aus Freiheit, nicht aus lehrmethodischen Direktiven und operativ engen Vorgaben, wie sie eine aktuelle Bildungspolitik verordnet.
6.) Aus “Schöne neue digitale Schulwelt” von Georg Haiduk:
Oberstes Ziel ist die „Optimierung“ aller Prozesse, was deren Messbarkeit voraussetzt, denn nur so kann man sie „optimieren“. Zugleich wird zunehmend standardisiert, die pädagogische Freiheit wird immer weiter reduziert. Der Druck auf die Schule hat von allen Seiten zugenommen. Auch Schulen selbst werden „vermessen“, in Form von „Qualitätsanalysen“ mit fragwürdigen „Messinstrumenten“.
7.) Aus “Time for Change? — Tagungsband erschienen”:
Seit PISA stehen Schulen unter dauerndem Reformdruck unter dem Label ‚Schulentwicklung‘: Kompetenzorientierung, Vergleichstests, zentrale Prüfungen, individuelle Förderung, dauernde Rechenschaftslegung, Schulprogramme, Steuergruppen, Qualitätsmanagement, Schulinspektionen usw. sollen Schule besser machen. Im Erleben vieler Lehrerinnen und Lehrer bewirken sie faktisch das Gegenteil: unsinnige Arbeitsverdichtung durch Bürokratisierung, Ablenkung vom Kerngeschäft Unterricht, Normierung von Didaktik und Methodik, Kontrolle und Verlust der pädagogischen Freiheit, subtiler oder offener Anpassungsdruck durch Schulleitungen und Behörden etc.
8.) Aus “Aufruf zur Besinnung: Humane Bildung statt Metrik und Technik” von Matthias Burchardt und Ralf Lankau:
Anstatt Schule und Unterricht durch digitale Transformation für Metrik und Technik zu optimieren, muss der Fokus wieder auf Individuum, Gemeinschaft und humanen Lernprozessen liegen. Digitaltechnik kann dabei ein Werkzeug unter vielen sein. Bildung aber ist Beziehung: Der Mensch wird am Menschen zum Menschen.
9.) “Studien- und Berufsorientierung ballaballa”
10.) “Die Pädagogische Freiheit von Lehrkräften. Ausführung und Grenzen in der Bildungs- und ErziehungsarbeitEine kurze Untersuchung”, Hausarbeit, 2004.