Lernen mit Künstlicher Intelligenz: Der Kölner Stadt-Anzeiger weiß Bescheid

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KI sei Dank: Schüler interviewen Delfine und Herrn Pi und bekommen von einer App “individuelle und wertschätzende Rückmeldung”.

Was der Deutschlandfunk kann, kann der Kölner Stadt-Anzeiger schon lange. Jüngst sendete der Deutschlandfunk einen fragwürdigen Beitrag, in dem es um die Digitalisierung der Schulen ging (wir berichteten). Am 7. März 2024 brachte der Kölner Stadt-Anzeiger einen fast ganzseitigen Artikel mit dem Titel “Lernen mit KI im Unterricht” (von Alexandra Ringendahl, Seite 3, online unter anderer Überschrift hier).

Wir greifen ein paar Passagen daraus auf:

Als vor einem Jahr ChatGPT auftauchte, war schnell klar: Künstliche Intelligenz wird auch die Schulen stark verändern.

Warum und wem war das klar? Was bedeutet “stark verändern”? Und: Wann soll diese “starke Änderung” eintreten?

Bildungsexperten sahen eine Revolution des Lernens und Prüfens am Horizont heranziehen.

Welche Bildungsexperten?

„Aber das war es dann, und alles ging weiter im alten Muster. Dabei wird es Zeit aufzuwachen und auch mit einem Missverständnis aufzuräumen. Es geht bei KI nicht um einen Trend oder einen Hype“, mahnt der Bildungsaktivist und Netzlehrer Bob Blume. Es gehe um nichts weniger als darum, „wie Lernen relevant bleiben kann, wenn ich alles schreiben, übersetzen, zusammenfassen, strukturieren und sogar vortragen lassen kann“.

Aha, bei KI geht es also darum, wie Lernen relevant bleiben kann. Wir gehören zwar nicht zur Riege einschlägiger Bildungsexperten (wir sind ja nur Diplom-Mathematiker), aber wir fragen trotzdem: Warum sollte Lernen irrelevant werden? Wegen einer neuen Technik? — Lernen (besser: Bildung) ist immer relevant, für jeden Menschen überall auf der Erde, völlig unabhängig davon, welche neue Technik gerade angeblich dabei ist, die Welt zu erobern.

Über Bob Blume weiß Wikipedia: “Blume hat Bücher zur digitalen Bildung, dem Referendariat und zur Unterrichtsgestaltung geschrieben und führt einen Blog. […] Blume arbeitet als Influencer für verschiedene staatliche Bildungskampagnen. Für seine Tätigkeit auf TikTok erhielt er 2022 die Auszeichnung „Blogger des Jahres“ vom Goldenen Blogger.” (Wir wollen auch endlich mal “Blogger des Jahres” werden.)

Auf Blumes Homepage findet sich der Artikel “Interviews mit der KI führen – für alle Fächer”:

ChatGPT und Co. kann nicht nur für schnelle Antworten oder kurzes Nachfragen genutzt werden, sondern für einen motivierenden Unterricht […].

Hm. Ein gut (aus)gebildeter Lehrer kann ebenfalls für schnelle Antworten, kurzes Nachfragen und — wenn der Lehrplan es nicht verhindert — für motivierenden Unterricht genutzt werden.

Im Deutschunterricht kann man z.B. mit dem richtigen Prompt dafür sorgen, dass ChatGPT eine literarische Figur ist, die man interviewen kann.

Ja, kann man machen. Kann man aber auch lassen.

Im Geschichtsunterricht geht das mit historischen Figuren. Im Sprachunterricht mit Bewohnern von Städten. Im Interview mit der FAZ erklärte ich, warum ich dies interessant finde: “Wir haben vor dem Hintergrund unseres historischen Wissens in der achten Klasse auf ChatGPT einen armen Industriearbeiter im geographischen Deutschland des 19. Jahrhunderts über seine Wohn- und Familienverhältnisse befragt und das Ergebnis dann abgeglichen mit unseren Kenntnissen. […]”

Warum interviewt man im Rahmen eines motivierenden Unterrichts nicht lebende Industriearbeiter (m/w/d) aus Fleisch und Blut und lässt sich die Geschichte von deren Eltern und Großeltern erzählen? Aber das geht natürlich nicht, denn dafür braucht man ja gar keinen Computer. (Im Übrigen: Wir wollen der FAZ auch mal erklären, was wir alles interessant finden.)

Blume hat nicht nur für Geschichte, sondern auch für andere Fächer Ideen, welche computergenerierten Gestalten man alles interviewen kann, zum Beispiel:

Biologie: Interview mit einem imaginären Tier oder einer Pflanze, um deren Lebensweise, Anpassungen und Ökosystem zu verstehen. Zum Beispiel könnte man ein Gespräch mit einem Delfin über das Leben im Ozean führen.

Ja, könnte man machen. In Schulen könnte man ebenso gut Gärten und Teiche anlegen und pflegen oder Fische in Aquarien halten, aber dafür bräuchte man ja gar kein WLAN.

Mathematik: Ein Gespräch mit einer fiktiven Figur, die ein mathematisches Konzept personifiziert, wie zum Beispiel ein “Herr Pi”, der über Kreisberechnungen spricht.

Diese Idee revolutioniert wahrlich das Lernen im Mathematikunterricht. Wer noch nicht genug von Bob Blume gelesen hat, lese “Eine Umwälzung wird so oder so stattfinden” auf faz.net oder „Es ist Zeit, aufzuwachen“ auf news4teachers.de.

Zurück zu dem extrem kritischen Artikel “Lernen mit KI im Unterricht” aus dem Kölner Stadt-Anzeiger:

Schulministerin Feller sieht in der KI viele Chancen. Mindestens genauso entschlossen, wie man sich der Frage widmen müsse, wie der Einsatz von KI etwa im Hinblick auf Prüfungen reguliert werden könne, sei das Potenzial in den Blick zu nehmen, wie KI Unterricht besser machen könne, sagte Feller dem Kölner Stadt-Anzeiger. „Ich sehe etwa enormes Potenzial für die individuelle Förderung.“ Richtig eingesetzt, könne KI Lehrkräfte entlasten und die Unterrichtsqualität gleichzeitig steigern.

Ob die Ministerin auch Risiken und Nebenwirkungen sieht? Worin besteht das “enorme Potenzial für die individuelle Förderung”? Wie man KI richtig einsetzt, wie dadurch Lehrkräfte entlastet werden und wie gleichzeitig dadurch die Unterrichtsqualität gesteigert wird, hat die Ministerin dem Stadt-Anzeiger nicht verraten, zumindest hat er es nicht berichtet. Wie es gehen kann, weiß die Artikelschreiberin selber:

Wie das gehen kann, zeigt etwa „Fiete.ai“. Die App gewann den Didacta Startup Award und entlastet die Lehrkräfte, indem sie den Schülern KI-basiert individuelle und wertschätzende Rückmeldung gibt.

Aha. Individuelle und wertschätzende Rückmeldungen werden nicht mehr von einem (im besten Fall empathischen) Lehrer, sondern von einer (auf jeden Fall seelenlosen) Maschine gegeben. So sehen also die Entlastung der Lehrer und die Steigerung der Unterrichtsqualität aus. Wenn das kein Fortschritt ist!

Das Gutenberg-Berufskolleg hat sich eine Probelizenz gesichert und Lehrer wie Florian Zang arbeiten mit Fiete.ai: […]. Für Schüler sei Feedback unendlich wichtig – aber eben für 30 von ihnen in der Klasse sonst nicht regelmäßig leistbar.

Auch das Gymnasium in Pesch gehört zu den Schulen, die sich bereits mit KI auseinandersetzen. […] „Wir wollten Künstliche Intelligenz aber hier auf jeden Fall als Chance sehen“, betont Schulleiter Marcel Sprunkel.

Gibt es irgendwo in Nordrhein-Westfalen Schulleiter, die in der Presse Gehör finden und öffentlich darauf hinweisen, dass digitale Medien Risiken und Nebenwirkungen haben und Geld kosten?

Die Schule nutzt Fobizz – hinter dem Namen steckt die führende deutschsprachige Plattform für Online-Weiterbildungen und Anbieter von digitalen Tools und KI für Lehrkräfte und Schulen. […] Das Gute sei, dass die KI den Lehrkräften administrative Tätigkeiten und auch viel Organisationsaufwand abnehmen könne, sagt Sprunkel. „So können wir wieder mehr Zeit für das Kerngeschäft gewinnen: für die eigentliche pädagogische Arbeit.“

Aha, an der einen Schule gibt die KI das Feedback und ersetzt pädagogische Tätigkeiten des Lehrers, an der anderen Schule kann die KI “den Lehrkräften administrative Tätigkeiten und auch viel Organisationsaufwand abnehmen” (ob sie es tatsächlich tut?). Wenn man beides miteinander kombiniert, braucht es bald keine Lehrer mehr.

Wer etwas Kritisches zu KI lesen möchte, sollte nicht auf den Kölner Stadt-Anzeiger setzen — wobei 2023 dort der Mathematiker Jobst Landgrebe interviewt wurde: „In ihren Folgen wird die KI völlig überschätzt“ (Bezahlschranke) –, sondern zum Beispiel den Artikel “Auf, auf zu neuen Märkten: Cannabis im Schulgarten und KI im Unterricht” von Ralf Lankau lesen.

PS
Nicht im Internet, sondern in einem öffentlichen Bücherschrank habe ich neulich das Büchlein “Gut ist es, allein zu sein. Erfahrungen mit Einsamkeit” von Ekkehard Saß (Herderbücherei, 1987) entdeckt. Darin steht (S. 35 und 40):

Nur im Alleinsein können wir die Kraft in uns entdecken, die uns zum Frieden mit uns selbst und somit auch zum Frieden mit der Welt führt. […]
Ich schlage die Zeitung morgens nicht mehr auf und merke, wie mich die hunderttausend “Neuigkeiten” immer von dem fernhalten, was allein für mich wichtig ist. Immer zieht mich die “Welt” von mir weg, von dem einen Punkt in mir, der Ruhe, Klarheit und innere Ordnung heißt. Immer zwingt mich die “Welt”, etwas in mich aufzunehmen, das mit mir nichts zu tun hat, mit dem Weg zur Entfaltung meiner Möglichkeiten. Ich unterhalte mich mit den Mißständen der Welt und bemerke meinen eigenen Mißstand nicht.

Lest das mal, Ihr Digitalfuzzis! Oder lasst es Euch von ner KI oder von Herrn Pi oder von nem Delfin vorlesen!

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