NRW-Zentralabitur: Das Schulministerium hat immer recht
Pleiten, Pech und Pannen von 2009 bis 2020 gibt es nur in den Köpfen von nervigen Bloggern, Nachhilfelehrern und Professoren.
In unserem Beitrag vom 16. Dezember 2020 haben wir eine Aufgabe (“Dachrinne”) vorgestellt und unsere Leser gefragt, was sie davon halten. Hier die Fortsetzung:
A Die Aufgabenstellung ist fehlerhaft.
Wir schließen uns uneingeschränkt der Analyse des Lesers Stefan an. Er kommt in seinem Kommentar zu folgendem Schluss:
Mit den gegebenen Informationen kann man nicht nachweisen, dass die beschriebene Funktion (die eigentlich eine von der gegebenen Schar verschiedene Schar ist) ein Vertreter der gegebenen Schar ist.
Die Aufgabenstellung scheitert bereits an der Formulierung “die [!] beschriebene Funktion”. Es gibt nämlich keine eindeutige Funktion mit den geforderten Eigenschaften.
Die Aufgabenstellung ist somit fehlerhaft. Der von den Schülern geforderte Nachweis kann nicht erbracht werden.
B Die Aufgabe stammt aus dem NRW-Zentralabitur 2009.
Wir haben die Aufgabe samt Modelllösung und Erwartungshorizont von Gregor Kowalski (Lerninstitut SMS, Bonn) erhalten (siehe Seite 1 dieses Dokuments). Seinen Angaben zufolge stammt sie aus dem NRW-Zentralabitur 2009 (Mathematik, Nachschreibtermin). Dies wurde offiziell bestätigt. Auf Nachfrage wurde uns aus dem Schulministerium mitgeteilt:
Besagte Aufgabe wurde im Nachschreibtermin 2009 für den Leistungskurs Mathematik gestellt. Die zugehörige Modelllösung ist ebenfalls authentisch.
C Die Modelllösung geht an der Aufgabenstellung vorbei.
Die sogenannte Modelllösung des Ministeriums verfehlt die Aufgabenstellung. Weder beweist noch widerlegt sie die Behauptung, dass “die beschriebene Funktion ein Vertreter der durch […] gegebenen Kurverschar ist”. Sie zeigt etwas anderes, nämlich, dass es ein gibt, sodass die beschriebenen Eigenschaften der zu modellierenden Dachrinne erfüllt.
D Die Kritik an der Aufgabe und die mutmaßliche Reaktion des Ministeriums
Gregor Kowalski hat sich laut eigenen Angaben 2009/2010 an das Schulministerium gewandt und auf die fehlerhafte Aufgabe hingewiesen (siehe dieses Schreiben). Bei der Stellungnahme (Seiten 2 und 3 des obigen Dokuments) handelt es sich ihm zufolge um die Stellungnahme der damaligen “Fachkommission Mathematik der Unabhängigen Kommission zur Qualitätssicherung von zentralen Prüfungen in Nordrhein-Westfalen” unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Gilbert Greefrath. Auf die habe sich das Ministerium berufen. Aus dem Ministerium hieß es auf unsere Anfrage:
Die Urheberschaft der Stellungnahme lässt sich leider nicht mehr zweifelsfrei klären.
Also könnte es auch sein, dass Pippi Langstrumpf sich diese Stellungnahme ausgedacht hat. Wie dem auch sei, die Stellungnahme rechtfertigt die Aufgabenstellung und weist Kowalskis Kritik zurück.
In der Stellungnahme heißt es im Übrigen:
Bezeichnend ist, dass kein Fachlehrer, der diese Aufgabe gewählt hat, von Schwierigkeiten seiner Schüler bei der Lösung der Aufgabe bzw. von seinen Schwierigkeiten bei der Bewertung der Schülerlösungen berichtet hat.
Das ist in der Tat bezeichnend. Die Frage ist nur, wofür es bezeichnend ist. Dafür, dass die Aufgabe ohne Fehl und Tadel ist? Oder vielleicht dafür, dass manche Fachlehrer blind und unkritisch der Modelllösung des Ministeriums vertrauen, oder dafür, dass sie sich nicht ans Ministerium (oder an Pippi Langstrumpf) wenden, weil sie wissen, dass sie dort auf taube Ohren stoßen?
E Eine Kleine Anfrage zum Zentralabitur 2009 und die Antwort der Landesregierung
Die damalige Landtagsabgeordnete Renate Hendricks hat am 27.1.2010 eine Kleine Anfrage zu den “Zentralabituraufgaben 2009 im Fachbereich Mathematik” an die Landesregierung gestellt. Unter anderem hat sie gefragt:
Wie verhält sich die Landesregierung zu dem Vorwurf, die erste Teilaufgabe in den Nachprüfungen zum Zentralabitur 2009 im Fachbereich Mathematik sei falsch und unlösbar gewesen?
Hierauf hat die damalige Schulministerin im Namen der Landesregierung geantwortet:
Der Vorsitzende der Unabhängigen Fachkommission, Herr Prof. Dr. Greefrath, hat nach erneuter Prüfung der Aufgabe in Abstimmung mit den Verantwortlichen der Aufgabenkommission die Eindeutigkeit der Aufgabenstellung und die Lösbarkeit der Aufgabe festgestellt. […]
Im Gegensatz zu der Behauptung, „aus dem Lehrpersonal selbst“ seien Hinweise zur Fehlerhaftigkeit der Aufgabe vorgetragen worden, sind im Ministerium keinerlei Hinweise im Anschluss an die Klausur eingegangen. Damit konnten die betroffenen Schülerinnen und Schüler offenbar mit der Aufgabenstellung umgehen und die Lehrkräfte konnten die Schülerlösungen in der vorgesehenen Weise bewerten. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass mehr als ein halbes Jahr nach den Prüfungen der Leiter eines Nachhilfeinstituts – also keine Lehrkraft – die Behauptung aufgestellt hat, die Aufgabe sei nicht lösbar.
F Fazit
Das Ministerium für Schule und Bildung ist unfehlbar und hat immer recht — nicht nur 2009, sondern auch 2011, 2013, 2014, 2015, 2016, 2018, 2019 und 2020.
Franz-Reinhold Diepenbrock, Professor für Angewandte Mathematik im Ruhestand, formuliert es in seinem Kommentar etwas anders:
Das Empörende und Skandalöse ist nicht so sehr die Tatsache, dass dem Schulministerium bzw. der von ihm beauftragten Aufgabenkommission bzw. 2009 der damals noch aktiven Unabhängigen Kommission Pannen unterlaufen bzw. unterlaufen sind, sondern die Art und Weise, wie auf Seiten des Schulministeriums damit umgegangen wird, wenn mit Recht auf Pannen hingewiesen wird und u.a. Kleine Anfragen im Landtag an das NRW-Schulministerium gerichtet werden.
Wir haben es aufgegeben, eine bessere Kontrolle des Ministeriums durch den Landtag zu fordern.
Hallo Herr Roentgen,
vielen Dank dafür, die Geschichte wieder ausgegraben zu haben.
Das MSW hat schon damals mit allen Mitteln gelogen und betrogen.
Interessant ist auch, dass sich ein Mathematik-Professor damals hat dazu korrumpieren lassen, ein eindeutig falsches Gutachten zu verfassen.
Nicht nur Prof. Diepenbrock, sondern auch einer meiner Professoren hat ohne mit der Wimper zu zucken bestätigt, dass der Fehler vollkommen unzweifelhaft ist.
Auch im Zusammenhang mit der vielzitierten Tannenaufgabe bin ich von einem Referatsleiter des MSW mal angerufen worden und am Telefon bar jedes Argumentes angebrüllt worden, weil ich öffentlich das Vorgehen dieses Mannes und des ganzen MSW kritisiert hatte, weil es öfters Manipulationen gibt und gab.
Offenkundig gilt, was mir ein ehemaliger Dezernent mal unter 4 Augen sagte: Das MSW ist verseucht von Seilschaften, man müsste da eine “Bombe rein werfen”, wenn sich etwas ändern sollte.
Ich heiße diesen Aufruf explizit nicht für befolgenswert, verstehe aber das Bild dahinter.
Beste Grüße aus Bonn
Gregor Kowalski
Hallo Herr Kowalski,
wenn Sie mit dem “Mathematik-Professor” den Herrn Greefrath meinen: der ist keiner. Er hat eine Professur für Mathematikdidaktik – also in einer Erziehungs”wissenschaft”. Er mag wissen, wie man Spiegeleier macht, aber er ist kein Koch.
Hallo Herr Lemmermeyer,
danke für die Richtigstellung. Den Herren meine ich..ich kam auf die Schnelle nicht mehr auf seinen Namen und das Gutachten, das ich damals von ihm bekam, ist irgendwo in den Untiefen meiner Ablage “Wie der Staat seine Bürger durch Inkompetenz und Lügen auf den Arm nimmt” versunken…gerade aktuell läuft dieser Ordner ja über ;-).
Allerdings meine ich, dass auch ein “nur” Professor für Mathematikdidaktik fachlich in der Lage sein müsste, einen derart offensichtlichen Fehler in einer Aufgabenstellung, wenn nicht selber zu entdecken, dann doch zumindest den Argumenten dazu eines “Nur-Nachhilfelehrers” (allerdings mit zwei Staatsexamen für die SI/II, der aus Überzeugung das kranke System verlassen hat und seit 20 Jahren ein Experte in Matheabi ist 😉 ) folgen zu können.
Aber man wundert sich über nichts mehr beim MSW…;-)
Beste Grüße aus Bonn
GK