Mit leerem Tank

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Nicht nur die neuseeländische Premierministerin ist erschöpft.

Jacinda Ardern, Neuseelands Premierministerin (42), hat vor kurzem ihren Rücktritt angekündigt: “Ich weiß, was es braucht, um diesen Job zu machen. Und ich habe nicht mehr genug im Tank, um dem gerecht zu werden” (tagesschau.de, 19.01.2023). Am Tag nach der Ankündigung sagte sie laut Spiegel: “Ich muss zugeben, ich habe zum ersten Mal seit langer Zeit fest geschlafen.” (Wie kann man ein Land verantwortungsvoll regieren, wenn man über lange Zeit schlecht schläft? Schläft unser BK Olaf Scholz lange und genug?)

Neuseeländische Premierministerin müsste man sein! Mit 42 “einfach so” den Job an den Nagel hängen können! Wie viele Lehrer wird es geben, deren Tanks leer sind, die nicht mehr können, die schlecht schlafen? Der Kölner Stadt-Anzeiger brachte dieses Thema am 20.09.2018 auf die Seite 3 mit dem bitter-schönen Titel “Der tägliche Klassenkampf — Lehrer klagen in einer Studie über hohe Belastungen und fehlende Rückzugsmöglichkeiten”. Der Bericht fängt so an:

Holger Maiwald leidet an Sodbrennen und Schlaflosigkeit. Wenn er nachts im Bett liegt, kann er oft nicht abschalten. Die Probleme, die er in seinem Job tagtäglich erlebt, lassen ihn nicht los.

Hat sich an dieser Misere etwas geändert? Wenn ja, bitte melden! Wir ersparen uns die Mühe der Recherche nach aktuellen Burn-out-Meldungen von Lehrern.

Die Tagesschau ist so nett und liefert ein paar Tipps, um dem Burn-out ein Schnippchen zu schlagen:

Es gehe darum, “Entscheidungsfreiheit zu haben, statt nur ein getriebener Mensch zu sein. Es ist wichtig, die Ketten, die einen fesseln, zu sprengen.” Der Stress von Menschen mit bis zu 80 Arbeitsstunden wöchentlich komme zwar zum Teil aus der Umwelt, zum Teil aber auch aus ihnen selbst. “Sie haben sich selbst Vorgaben gemacht, mit denen sie sich in ein Korsett hineingezwängt haben”, so Schiele [Psychologe Timo Schiele von der Psychosomatischen Klinik Kloster Dießen am Ammersee].

Autogenes Training und andere Achtsamkeitsübungen genügten in so einem Fall nicht, um aus diesem Korsett auszubrechen und um die Sichtweise von sich selbst als Maschine aufzugeben. “Der Mensch ist keine Maschine und auch nicht dafür geboren, eine zu sein.”

Ratsam sei deshalb, “immer wieder seine persönliche Kompassnadel zu justieren und im Blick zu behalten”. Im Trubel des Alltags “geht dieser Kompass manches Mal verloren und Menschen wenden viel Energie für Dinge auf, die sie in einem ruhigen Moment eigentlich nicht als wichtig einordnen würden.”

Hört sich gut an. Die Ketten sprengen — womöglich leichter gesagt als getan. Nicht jeder wird finanziell so üppig versorgt wie der neuseeländische Regierungschef. (Laut Wikipedia erhält er jährlich 471.049 NZ-Dollar, das sind rund 280.000 €.) Die “persönliche Kompassnadel im Blick zu halten” ist sicherlich wichtig, aber es wäre an der Zeit, dass die Politik beschissene Arbeitsbedingungen in Schulen und anderswo erheblich verbessert und es nicht jedem Einzelnen überlässt, sich stärker gegen Stress zu wappnen. Wir bezweifeln bis auf weiteres, dass das “Handlungskonzept zur Verbesserung der Unterrichtsversorgung” der NRW-Schulministerin Dorothee Feller (das ist die Nachfolgerin von Yvonne Gebauer) dies leistet. Erst gestern meldete der Deutschlandfunk zum Thema Lehrermangel: “Experten empfehlen weniger Teilzeit, mehr Wochenstunden und Beschäftigung von Pensionären”. Das hilft sicherlich gegen Burn-out. Die sogenannten Experten bilden übrigens die “Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz”. Die kam bereits 2022 auf echt gute Ideen: “In ihrem Gutachten kommt die Kommission zu dem Schluss, dass die Vermittlung digitaler Kompetenzen und Informatikinhalte noch nicht ausreichend in den Bildungsplänen verankert sind. Für den frühkindlichen Bereich empfiehlt die SWK, digitale Bildung verpflichtend in die Bildungspläne aller Länder aufzunehmen” (KMK-Pressemitteilung). Tablets für Kinder im Kindergarten bzw. in der Kita? Geht’s noch? Digital first, Bedenken second. Kann jemand mal diesen Experten das Dammer-Gutachten (am besten auf Papier) mit einem schönen Gruß von uns schicken?

Zurück nach Neuseeland: Wir wünschen Jacinda alles Gute. Möge sie, wie sie es wünscht, bei der Einschulung ihrer vierjährigen Tochter dabei sein und ihren langjährigen Partner heiraten. Abschließend hoffen wir, dass Sanna Marin, Finnlands Premierministerin, nicht die nächste ist, die das Handtuch wirft. Es gibt nämlich keine Premierministerin, die so geil Party machen kann wie Marin. Über ihren etwas simplen Vorschlag zur Lösung des Russland-Ukraine-Konflikts lässt sich streiten. Aber das ist ein anderes Thema.



PS. Zur Vertiefung:
1.) “Lohnarbeit und Psyche. Persönliche und systemkritische Überlegungen zu arbeitsbedingten psychischen Erkrankungen” von Wolfgang Hien pdf auf labournet.de
2.) “Arbeitsunfälle in Deutschland: Mehr als ein Toter pro Tag” von Renate Dillmann auf den NachDenkSeiten (aus dem Fazit: “Es ist schon ein ziemlich robustes Verhältnis zur fremden wie eigenen Gesundheit, wozu die marktwirtschaftliche Konkurrenz ihre Subjekte nötigt…”)

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Titelfoto: Ministry of Justice of New Zealand, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons; Beschreibung: “Jacinda Ardern reopens the Dunedin Courthouse. She presents a flag to be placed in the building’s time capsule.”

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