Sprachsensibler Unterricht

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Treibt der bürokratisch-didaktische Komplex eine weitere Sau durchs Dorf?

Was es nicht alles gibt. Heute: sprachsensibler Unterricht. Die/das “Qualitäts- und UnterstützungsAgentur – Landesinstitut für Schule” (QUA-LiS NRW) hilft uns zu verstehen, was das ist. (Laut eigener Darstellung berät QUA-LiS “das für Schule und Bildung zuständige Ministerium und ist die vom Ministerium beauftragte zentrale Einrichtung für pädagogische Dienstleistungen insbesondere zur Unterstützung der Schulen bei der Wahrnehmung ihres Bildungs- und Erziehungsauftrages”; Rechtsgrundlage ist ein Erlass des Schulministeriums vom 17.05.2018.)

Zu sprachsensiblem Unterricht schreibt QUA-LiS:

Der Begriff „sprachsensibler Unterricht“ steht für einen Fachunterricht, in dem die Sprache bewusst als Mittel des Denkens und Kommunizierens eingesetzt wird, um fachliches und sprachliches Lernen zu verknüpfen.

Haben Lehrer das jemals anders gemacht, also Sprache nicht als Mittel des Denkens und Kommunizierens eingesetzt?

QUA-LiS bringt ein Beispiel:

Äußerung a. „Die Zeit vergeht und die Temperatur des Wassers steigt.“
Äußerung b. „Je länger das Wasser erhitzt wird, desto höher wird die Temperatur.“

Beide Lernende betrachten das gleiche Diagramm und meinen vermutlich dasselbe. Doch während a. die Zeitdauer und den Temperaturanstieg des Wassers, sprachlich markiert durch die Konjunktion „und“, nebeneinander anordnet und sie als zwei Einzelbeobachtungen darstellt, zeigt b. eine Kausalität zwischen Zeit und Temperaturanstieg auf. Sprachlich markiert wird diese durch die Doppelkonjunktion „je…desto“ sowie die Komparativnutzung („länger…höher“).

Wir bezweifeln, dass die Konjunktion “je …, desto …” eine Kausalität impliziert. Auf duden.de findet sich das Beispiel “Je weiter sie nach Süden vordrangen, umso dichter wurde das Gestrüpp.”. Wird das Gestrüpp dichter, weil sie weiter nach Süden vordrangen? Aber wir wollen nicht spitzfindig sein.

QUA-LiS weiß noch mehr:

Schülerinnen und Schüler wechseln im Verlauf eines Schultages Räume und Fächer und müssen sich dort nicht nur mit völlig verschiedenen Gegenständen auseinandersetzen, sondern eben auch mit den fachspezifischen Sprachmustern. Diese vermitteln zwischen den Fachinhalten und den Kommunizierenden in einem Fach. Dies sind vor allem Lehrende sowie Schülerinnen und Schüler. Was Lehrpersonen größtenteils durch ihr Fachstudium erworben haben, kennen Lernende noch nicht.

Wer hätte das gedacht! Und ferner:

Aufgabe eines sprachsensiblen Fachunterrichts ist es, allen Schülerinnen und Schüler durch integrierte, gezielte sprachliche Unterstützung das fachliche Lernen zu ermöglichen und zu erleichtern.

Haben Lehrer, die bisher ohne “integrierte, gezielte sprachliche Unterstützung” unterrichtet haben, das fachliche Lernen verhindert und erschwert (was auch immer “integriert” in diesem Zusammenhang bedeuten mag)? Dass Lernen bisweilen mit Schwierigkeiten, Hemmungen und Problemen verbunden ist, ist unstrittig, aber werden diese Probleme durch den neuartig daherkommenden Ansatz des sprachsensiblen Unterrichts gelöst?

Wer nicht weiß, wie man sprachsensibel unterrichtet, dem hilft QUA-LiS weiter:

Um den Zugang zu den spezifischeren Registern der Fachsprachen zu gewähren, das Werkzeug zum Umgang mit fachlichen Inhalten bereitzustellen, möchte sprachsensibler Fachunterricht:

  • klar kommunizieren, welche sprachlichen Zielsetzungen es im jeweiligen Fach gibt,
  • Transparenz herstellen über sprachliche Aspekte der Leistungserfassung,
  • reflektieren, wie Lehrkräfte die Sprache im Fach verwenden,
  • sprachliche Lerngelegenheiten mit passender Unterstützung schaffen,
  • Materialien auf sprachliche Angemessenheit prüfen und
  • sprachsensibler Fachunterricht blickt genau auf die sprachlichen Voraussetzungen bei Schülerinnen und Schülern.

Da steh’ ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor! Wie sind diese Kritierien zu verstehen? Welchen Mehrwert bieten sie? Wie sind sie mit welchem Aufwand umzusetzen? Was zum Beispiel bedeutet es, “genau auf die sprachlichen Voraussetzungen bei Schülerinnen und Schülern zu blicken”? (Davon, dass Unterricht keinen Willen hat und weder etwas prüfen noch reflektieren kann, sehen wir ab. Oder steckt hinter der Personifizierung von Unterricht ein besonderes sprachsensibles Stilmittel?)

QUA-LiS weist auf seiner Internetseite auf eine Plattform hin: “Umfangreiche und gut strukturierte Materialsammlung (Publikationen, Lernlandkarten, Methoden, Arbeitsblätter) der Plattform Sprachsensibles Unterrichten fördern“.

Auf der Homepage dieser Plattform (laut Impressum verantworlich: Dezernat 37, Bezirksregierung Arnsberg, Landesweite Koordinierungsstelle Kommunale Integrationszentren) heißt es:

Die vorliegenden Materialien und Inhalte sind im Projekt „Sprachsensibles Unterrichten fördern – Angebote für den Vorbereitungsdienst“ durch Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis gemeinsam entwickelt und weiterbearbeitet worden. Mit dem vorliegenden Band ist eine Zusammenschau aktueller Erkenntnisse zu Sprachbildungsansätzen im Fachunterricht und der Vermittlung dieser in Kern- und Fachseminaren entstanden.

Zu den Materialien gehören “Lernlandkarten”, zum Beispiel die Lernlandkarten Mathe 1 (stolze 38 MB groß) und Mathe 2 (58 MB). Was man damit anfangen kann oder soll, wissen wir nicht so recht. Aber wir sind ja auch Diplom-Mathematiker und kein Dodi (eine nicht besonders sensible Abkürzung für “Doktor der Didaktik”, die auf Franz Lemmermeyer zurückgeht, siehe hier und hier).

Noch gelungener als die Lernlandkarten ist das sogenannte Bildvokabelset “Sprechen über Unterricht” (50 MB!). Vier der 158 Seiten seien hier abgebildet (die anderen sind um keinen Deut besser):






Das haben Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis gemeinsam entwickelt?

— Wir müssen, nachdem wir dieses Bildvokabelset gesehen haben, erst einmal Schluss machen und uns erholen, vielleicht bei sprachsensiblen Saunaaufgüssen. Weitere Beiträge zum sprachsensiblen Unterricht folgen bei Gelegenheit. Einstweilen halten wir an unserem Verdacht fest, den wir im Artikel “‘Pädagogik und Didaktik sind als universitäre Fächer zum Kotzen’ (Wolf Wagner)” formuliert haben:

Die Theorien und Methoden, die sich Wissenschaftler der Pädagogik und der Didaktik in ihrem Elfenbeinturm zur Steigerung des sogenannten Lernerfolgs von Schülern ausdenken, sind im Allgemeinen trivial oder wirklichkeitsfremd und für die Praxis untauglich; im besten Fall wird auf umständliche Art und Weise alter Wein in neue Schläuche gefüllt.

Vorläufiges Fazit: Es sieht so aus, als ob der bürokratisch-didaktische Komplex mit dem “sprachsensiblen Unterricht” eine weitere Sau durchs Dorf treibt.

2 Kommentare

  1. Magda von Garrel

    Vielen Dank für diese scharfsinnige (und teilweise sogar erheiternde) Auseinandersetzung mit dem in diesem Fall sogar besonders nutzlosen “bildungstheoretischen Geblubbere”. Das erinnert mich an den (schon vor langer Zeit unterbreiteten) Vorschlag, die Mehrheit der Bildungstheoretiker in den Schuldienst zu versetzen. Ein solches Vorgehen brächte gleich zwei Vorteile mit sich: Beendigung des Lehrermangels einerseits und andererseits (für die davon Betroffenen) die Möglichkeit, die praktischen Folgen ihrer Vorschläge hautnah miterleben zu können.

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  2. Alexander Roentgen (Beitrag Autor)

    Auf dem Blog von Franz Lemmermeyer gibt es einen kurzen Nachtrag zum Thema: “SSU”.

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