Ein Hoch auf Andreas Augsburger!

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“Bringt der ständige Zeit-Invest in digitale Lebenswelten und Netzwerke wirklich Glück und Lebenserfüllung?”

Im Wesentlichen geht es mir als Blogger ja wie Franz Lemmermeyer, der vor ein paar Wochen unter dem Titel “S’isch over” geschrieben hat:

Ich habe jetzt fertig. Ich kapituliere. Es ist mir künftig wurscht, was Didaktiker und Bildungsforscher von sich geben. Man kann gegen diese Leute nicht anstinken. Ich nicht, und andere auch nicht. Dass die OECD- und PISA-Hörigen das Bildungssystem ruiniert haben, weil sie es an das amerikanische System anpassen wollten und einer Akademikerrate von 50 % hinterhergerannt sind, beginnt sich jetzt zu rächen. […]
“Ich sitze nur da und sehe zu, wie die ganze Scheiße vorbeizieht”, hat mein Namenskollege Lemmy Kilmister gesagt. So mache ich das ab jetzt auch.

Dennoch habe ich neulich das Blättchen “Bildung aktuell” vom Philologenverband (PhV) NRW (Ausgabe 3/2022) aufgeschlagen und durchgeblättert, anstatt es links liegen zu lassen. Es ist viel Blabla zu lesen:

1.) Seite 5: “Die Digitalisierung hat durch die Coronapandemie einen Schub erhalten, viel zu spät, aber dennoch wird ihre Bedeutung nun endlich wahrgenommen. Nordrhein-Westfalen hat auch hier im Vergleich zu anderen Bundesländern viele deutliche Akzente gesetzt. Wir erkennen in vielen Bereichen, wie komplex und ineinandergreifend die gesamte Entwicklung ist – sei es bei der Ausstattung
mit Endgeräten, der Fortbildungsoffensive, der Digitalstrategie, dem Datenschutz. Viele ‘Player’ sind auf den Platz zu holen, anzulernen, zu koordinieren und mitzunehmen, damit das Spiel rund und erfolgreich sein kann. Jetzt muss nachgebessert werden und es müssen vor allem diejenigen mitgenommen werden, die mit der Umsetzung der Digitalisierung maßgeblich gefordert sind und ohne die es nicht geht, die Lehrkräfte.”

2.) Seite 7: Werbung von Samsung: “Weil Wissen die Welt verändert. Mit Samsung Flip smart lernen: digital und interaktiv.”

3.) Seite 8ff: “15 Jahre Zentralabitur in NRW — eine kritische Bilanz”. Ein kritischer Hinweis, darauf dass Zentralabitur Teil der elenden Standardisierung ist, fehlt…

4.) Seite 12: “Unter den Bedingungen der Digitalität verändern sich nicht nur Lernen und Lehren, sondern auch die Anforderungen, denen zeitgemäße Prüfungsformate genügen müssen.” Unter diesem Artikel finden sich bezeichnenderweise zwei Anzeigen, und zwar von der Schlossklinik Pröbsting (“Wir behandeln die gängigen Indikationen wie Depressionen, Burn-Out, Ängste etc.”) und von der Klinik am Leisberg (“Von hieran geht es aufwärts!”)…

5.) Seite 16: “Digitalisierung allein ist kein Garant für sinnvollen und zielführenden Unterricht. Sie hilft jedoch, unterrichtliches Lernen effektiver zu gestalten und Zeit zu gewinnen. Die Digitalisierung von Unterricht kann also helfen, mehr Zeit zu erhalten für das analoge Miteinander, und somit die humanistische Bildungsarbeit stärken.”

Nach Lektüre dieser ultimativen Weisheiten kostete es Überwindung, noch die vorletzten Seiten aufzuschlagen. Irgendwie habe ich es geschafft. Und zu meiner Überraschung fand sich auf den Seiten 26/27 ein guter Leserbrief von Andreas Augsburger, der sich mit der Stellungnahme “Impulspapier II. Zentrale Entwicklungsbereiche des Lernens in der digitalen Welt” des Schulministeriums (“die digitale Welt” gibt es nicht, aber egal, einfach vorbeiziehen lassen!) auseinandersetzt. Augsburger ist PhV-Vertrauenslehrer am Gymnasium. Unter anderem schreibt er:

Das Wort von der ‘Professionalisierung’ des Lehrerberufs spukt in dem Dokument mehrfach herum – so, als hätte ich nie ein Examen abgelegt und würde nicht bereits seit Jahren erfolgreich unterrichten? Sind meine Fachkompetenzen, mein akademisches Studium, meine Begeisterung für meine Disziplinen nur unbedeutendes Beiwerk neben der ‘Hauptsache’ Digitalkompetenzen? […]

Bringt der ständige Zeit-Invest in digitale Lebenswelten und Netzwerke wirklich Glück und Lebenserfüllung? Ist nicht vielmehr die Alltagserfahrung, dass die Schüler in den Sozialen Medien Lebenszeit verschwenden, Nabelschau betreiben und sich des Mobbings durch ihre Peers erwehren müssen?
Meine Befürchtung ist, dass, je mehr digitale Spielereien Einzug in die Unterrichtsfächer finden, zentrale Kompetenzen wie sorgfältige Lektüre anspruchsvollerer Texte und vor allem die Fähigkeit, selbst sprachrichtige, strukturierte, durchdachte und reflektierte Texte zu produzieren – mithin Erlerntes in eigenen Worten korrekt und sinnhaft zu amalgieren –, weiterhin immer weniger ausgebildet werden.

Bravo! Es tat gut, diese Worte zu lesen. Nur wird sich auch davon kein Didaktiker und Bildungsforscher beeindrucken lassen. Trotzdem ein Hoch auf Andreas Augsburger! Andreas Augsburger for President of PhV NRW!

PS:
1.) Es ist merkwürdig: Einerseits wird im Heftchen “Bildung aktuell” unkritisch bis werbend von der Digitalisierung gesprochen (Ausnahme der Leserbrief von Augsburger), andererseits fordert der PhV NRW (“Acht Forderungen des Philologenverbandes NRW”): “Lehrkräfte entscheiden über den Einsatz digitaler Medien in pädagogischer Freiheit.” Konsequent wäre es, wenn sich diese Forderung in den Artikeln durchgängig wiederfinden würde.

2.) Als ich im Juli im ICE unterwegs war, erklärte eine Zugbegleiterin einem Passagier: “Auch im ICE können Sie in der Regel keine Fahrkarten mehr kaufen. Es soll alles digitalisiert werden — ob die Leute das wollen oder nicht.”

3.) Schauspieler Ulrich Tukur mag keine Smartphones. Menschen, die “ohne diese vermaledeiten Leuchtschachteln nicht mehr existieren können”, deprimierten ihn. “Natürlich besitze ich, um der Wahrheit die Ehre zu geben, einen Laptop, aber den macht man am Abend mit spitzen Fingern auf, und das reicht dann auch”, sagte Tukur der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. “Ich brauche ein Telefon zum Telefonieren und vielleicht für eine SMS.” (Quelle: tag24.de)

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