Könnte ein zu hoher Konsum von Smartphone, Internet & Co die Lesekompetenz von Grundschülern negativ beeinflussen?

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Zu Risiken und Nebenwirkungen digitaler Medien fragen Sie besser keinen Schulentwicklungsforscher, sondern lieber den Amtsarzt Ihrer Kommune!

tagesschau.de meldete vor ein paar Tagen (16.05.2023):

In Deutschland hat etwa ein Viertel aller Viertklässlerinnen und Viertklässler Schwierigkeiten beim Lesen. 25 Prozent der Kinder in dieser Altersstufe erreichen nicht das Mindestniveau beim Textverständnis, das für die Anforderungen im weiteren Verlauf der Schulzeit nötig wäre. Zu diesem Ergebnis kommt die aktuelle Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung, IGLU. Damit hat sich die Zahl der Grundschulkinder mit Schwächen beim Leseverständnis in den vergangenen Jahren deutlich erhöht.

Für den deutschen Teil der IGLU-Studie ist das Institut für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund verantwortlich.

“Woran hat’s gelegen?” will man nicht nur nach einem in die Hose gegangenen Fußballspiel wissen. Laut tagesschau.de gehen die Autoren der Studie gehen davon aus, dass auch die Schulschließungen während der Corona-Pandemie zu den größeren Schwächen beim Lesen geführt haben könnten. “Die IGLU-Studie führt für das sinkende Leistungsniveau beim Lesen […] weitere Ursachen an: etwa die heterogener werdenden Klassen. Dadurch würden Lehrkräfte vor größere und vielfältigere Herausforderungen gestellt.”

Ein Zusammenhang zwischen dem Konsum neuer Medien (Internet, Smartphone etc.) und der Lesekompetenz wurde weder berichtet, noch wurde er von Nele McElvany, der Leiterin des Instituts für Schulentwicklungsforschung, in diesem Interview der Tagesschau erwähnt. Dabei gibt es den einen oder anderen mehr oder weniger deutlichen Hinweis auf diesen Zusammenhang (unsere Hervorhebungen):

  • Das Ministerium für Soziales und Integration von Baden-Württemberg schreibt in der Broschüre “Häufige Fragen zur Einschulungsuntersuchung” (Fassung vom Februar 2021):

    Die Frage nach dem Medienkonsum steht vor allem im Zusammenhang mit der Sprachentwicklung und der psychosozialen Entwicklung. Untersuchungen zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen Medienkonsum und sprachlicher bzw. schulischer Leistungsfähigkeit gibt.

  • radioduisburg.de meldete (23.01.2023):

    Bei der Schuleingangsuntersucht testet das Gesundheitsamt künftige Erstklässler in den Bereichen Sprache, motorische Fitness und Konzentrationsvermögen. Bei der Untersuchung haben einige Kinder erhebliche Defizite aufgewiesen. Fast ein Drittel der Kinder spricht nur mangelhaftes Deutsch. Außerdem sind viele künftige Schüler körperlich nicht fit. Bei etwa 70 Prozent der Kinder sieht die Stadt Bedarf für eine Förderung. Die Stadt empfiehlt Konzentrationsübungen und mehr Sport. Außerdem sollte der Medienkonsum bei den Fünf- und Sechsjährigen unter einer Stunde liegen.

  • rp-online.de meldete (12.12.2019):

    Die Mitglieder des Sozial- und Gesundheitsausschusses [des Rhein-Kreises Neuss] erfuhren unter anderem folgendes: „Der Anteil der Kinder mit Sprach-Auffälligkeiten schwankt zwischen 25 und 29 Prozent“, erklärte die Amtsärztin. Sie sieht einen Zusammenhang zwischen diesen Defiziten und einem zu hohen Medienkonsum. Zwar hätte kaum ein Kind kurz vor der Einschulung ein eigenes Smartphone oder einen PC, sie verbrächten aber zu viel Zeit vor den Bildschirmen von Geräten, die es in der Familie gibt. Besonders viele Defizite werden in der Schule sichtbar, wenn es um das Verstehen von Texten geht.

  • Die Leipziger Zeitung berichtete (24.08.2015):

    Die Ergebnisse sorgen dann bei den Ärzten in der Schuleingangsuntersuchung für entsprechendes Entsetzen. Das beginnt bei Sprachauffälligkeiten. Kinder mit Migrationshintergrund haben zwar oft noch Probleme bei der Beherrschung der deutschen Sprache, erst recht, wenn sie noch keinen Kindergarten besucht haben und zu Hause kein Deutsch gesprochen wird. Aber die meisten Sprachauffälligkeiten haben damit nichts zu tun, sondern stammen aus einem familiären Umfeld, in dem zu wenig gelesen, zu selten auch verbal und einfühlsam miteinander kommuniziert wird. Verstärkt wird das Phänomen durch den oben genannten ausufernden Medienkonsum – nichts eignet sich so wenig zum klaren Sprechenlernen wie ein Fernseher oder ein Videospiel, auch wenn die Schöpfer der Angebote Gegenteiliges glauben.

  • kreiszeitung.de meldete (21.02.2022):

    Fast jedes fünfte Kind im Landkreis Diepholz, das eingeschult werden soll, ist wegen einer diagnostizierten Sprachstörung in Behandlung oder wartet auf einen Therapieplatz bei einem Logopäden. Das geht aus einem Bericht zu Schuleingangsuntersuchungen (Kinder der Altersklasse fünf bis sechs Jahre) des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes beim Gesundheitsamt des Landkreises Diepholz hervor. Jedes dritte Kind zeigt zudem sprachliche Auffälligkeiten, und „bei sechs Prozent waren diese so gravierend, dass eine weitere diagnostische Abklärung beim Kinderarzt empfohlen wurde“, berichtet Dr. Elke Schneider, Ärztin des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes des Landkreises. Diese Zahl sei in den vergangenen Jahren gestiegen. […]
    Die Nutzung der digitalen Medien sei stark angestiegen, und auch Kinder im Vorschulalter würden immer häufiger mit ihnen in Kontakt kommen. „Das erhöhte und in Teilen unkritische Nutzungsverhalten bei Kindern steht auch in einem engen Zusammenhang mit Sprachentwicklungsstörungen.“

  • nw.de meldete (16.08.2018):

    Schuleingangsuntersuchung. Eine Stunde lang werden sie durchgecheckt: Sie müssen zum Seh- und Hörtest, werden gewogen, gemessen und körperlich untersucht. Die Ergebnisse sind erschreckend: Sie zeigen, dass die i-Dötze in Sachen Fein- und Grobmotorik deutliche Schwächen haben. Dabei schneiden Kinder der niedrigen Bildungsschicht deutlich schlechter ab als Kinder aus hohen Schichten. […]

    Gründe für das schlechte Abschneiden der i-Dötze insgesamt sei ein Mangel an Bewegung und die gestiegene Nutzung von digitalen Medien. Budäus [Kinder- und Jugendärztin beim Gesundheitsamt Bielefeld]: “Es wird heute auch einfach nicht mehr so kreativ gebastelt oder mit Lego gespielt wie früher.” Besonders erschreckend: Die Daumen, die die Kinder etwa zum Nintendo-Spielen nutzen, könnten sie heute prima einsetzen, aber die Fähigkeit der anderen Finger lasse nach.

Solche Erkenntnisse von Amtsärzten sind offenbar für die Herausgeber der IGLU-Studie nicht von besonderem Interesse. (Wer Stellen in der IGLU-Studie findet, die auf das Gegenteil deuten: Bitte melden!) Stattdessen widmen sie der “Digitalisierung der Grundschule” ein eigenes Kapitel. Zu dessen Beginn heißt es (S. 197):

Die Relevanz digitaler Medien und digital vermittelter Informationen hat in allen Lebensbereichen deutlich zugenommen und gilt als unverzichtbar für den privaten, schulischen sowie beruflichen Alltag, gesellschaftliche Teilhabe und lebenslanges Lernen (Eickelmann, Bos, Gerick, Goldhammer & Schaumburg, 2019). […]
Zudem bieten digitale Medien Leseanlässe und sind mit zahlreichen Potenzialen für das Lernen wie beispielsweise einer höheren Motivation der Kinder zum Lesen oder vielfältigeren, kollaborativen Arbeitsweisen zum Lesenlernen assoziiert (Philipp & Souvignier, 2016; Schaumburg, 2018; Yang, Kuo & McTigue, 2018; Zierer, 2020a). Digitale Medien haben im schulischen Alltag eine zunehmend zentrale Rolle eingenommen und ergänzen Lehr-Lernprozesse, was bildungspolitisch insbesondere durch die Strategie zur ‚Bildung in der digitalen Welt‘ der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK, 2017) sowie deren Ergänzung (KMK, 2021) gerahmt wurde. Grundlegend für eine Nutzung digitaler Medien, die förderlich für die Entwicklung der Lesekompetenz von Kindern sein kann, ist eine Ausstattung der Grundschulen mit digitalen Medien, die im Unterricht eingesetzt werden können. […]
Neben einer grundlegenden Ausstattung mit digitalen Medien ist ihre Nutzungsweise maßgebend für die Unterstützung von Lehr-Lernprozessen sowie der Entwicklung der Lesekompetenz.

Wie immer gilt: Digital first, Bedenken second. Die Forscher am Institut für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund mögen das Dammer-Gutachten lesen. Vor einer Woche sagte Ralf Lankau in einem Interview der NachDenkSeiten („’Technischer Fortschritt ohne Technikfolgeabschätzung führt ins Desaster’“):

Immer mehr Kinder erreichen nach vier Jahren Schule nicht einmal die Mindeststandards in Lesen, Schreiben, Rechnen und Zuhören. Hier hilft nur gemeinsamer Widerstand von Schulträgern und -leitungen mit den Kollegien und den Eltern gegen die Ökonomisierung der Bildungseinrichtungen und Funktionalisierung der Menschen. Außerdem muss man die Ursachen der Lerndefizite benennen, unter anderem dysfunktionale Mediennutzung und gestiegene Bildschirmnutzungszeiten, wie es die Schulleiterin Silke Müller mit ihrem Buch „Wir verlieren unsere Kinder“ macht. Das ist der weiße Elefant im Raum. Täglich mehrere Stunden am Display und TikTok oder Games macht etwas mit den Kids.

Und jetzt: Abschalten!

2 Kommentare

  1. Magda von Garrel

    Auch wenn ChatGPT besonders fragwürdig ist, dürfte das “Ende der Fahnenstange” damit noch lange nicht erreicht sein. Als Beispiel sei die Sprach-KI “Vall-E” (aus dem Hause Microsoft) genannt, mit deren Hilfe ein täuschend echter Stimmenklon erstellt werden kann. Mit anderen Worten können wir uns bald überhaupt nicht mehr sicher sein, ob wir es mit einem menschengemachten Produkt zu tun haben und wie es um den jeweiligen Wahrheitsgehalt steht.
    Diese Entwicklung werden wir kaum noch verhindern können, da wir es in den zurückliegenden Jahren versäumt haben, uns nachdrücklich gegen die von der Politik forcierte Digitalisierung aller Lebensbereiche zu wehren. Als besonders fatal hat sich die Digitalisierung des Bildungsbereiches erwiesen, die gegen jede Vernunft (Erkenntnisse der Hirnforschung oder die während der “Lockdowns” gesammelten Erfahrungen) blindlings weiter vorangetrieben wurde. Dabei stand nie das Interesse der Kinder und Jugendlichen, sondern stets das Interesse der Wirtschaft im Vordergrund.

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  2. Franz Lemmermeyer

    Meine punktuellen Beobachtungen laufen darauf hinaus, dass wir gerade eine “Corona-Delle” haben: ab dem nächsten Abijahrgang sind die Schüler dran, die während der Pubertät Homeschooling hatten und inzwischen meilenweit von dem bisschen Niveau weg sind, an das wir uns in den letzten 5 Jahren gewöhnt haben.

    Aber worauf ich mich jetzt schon freue: Die dummen Gesichter, wenn man in 10 Jahren feststellt, dass es gar nicht Corona gewesen ist. Digital first, Bedenken 15 Jahre später.

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